Eva Indra
Espresso 902 planmäßig um 9.30 Uhr früh langsam in die Station Torino Porta Nuova einfuhr. Ganze zwölf Stunden und vierzig Minuten hatte der Zug von Lecce bis Turin gebraucht. Alex erwachte als erster und irgendwie war er überrascht, die Frau wieder vor sich zu sehen. Ihr schien es ähnlich zu ergehen, denn sie schreckte förmlich zusammen, als sie vollends erwacht war und Alex anblickte. „Torino! Capolinea!“ dröhnte es durch den Lautsprecher, kurz nachdem der Zug zum Stillstand gekommen war. Diese triviale Ankündigung gab Alex unvermittelt zu denken. Die Ungewissheit über den Verbleib des Buches, gepaart mit der unermesslichen Müdigkeit, die in seinen Knochen steckte, machten ihn verdrießlich. Wo war nur dieses Buch? Was hatte sie damit gemacht? War sie wirklich die Frau, für die er sie hielt? Alex war zu erschöpft, um auch nur eine dieser Fragen klar durchzudenken, deshalb wandte er sich unvermittelt an Anna: „Was wirst du jetzt machen?“ Vielleicht würde sie ihm ja einen Hinweis geben?
„Ich weiß noch nicht. Ich...“, hatte sie nach langem Schweigen stockend geantwortet, ohne den Satz beenden zu wollen.
Alex stieß einen stillen Seufzer aus, denn insgeheim hatte er sich eine aufschlussreichere Antwort erhofft. Also griff er sich spontan ihre Taschen und verließ damit den Zug. Er musste wissen, ob sie dieses Buch hatte und ergriff die Initiative. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass sie ihm ohne einen Einwand gefolgt war, letztendlich hatte er ihr Eigentum in Beschlag genommen. Auf dem Bahnsteig lud er die drei Taschen auf einen Gepäckwagen und setzte ihn sofort in Bewegung. Wohin er eigentlich wollte, war ihm selbst nicht klar, doch bislang war noch keine Entscheidung notwendig. Er folgte einfach den anderen Fahrgästen zu den Schranken, die die Bahnsteige von dem eigentlichen Bahnhofsgelände trennten. Bis dorthin hatte er Zeit sich etwas zu überlegen. Doch dann war sie plötzlich vor ihm - diese Schranke - hinter der die Entscheidung fallen musste. Sie öffnete sich geräuschlos, die anderen Fahrgäste zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen und Alex blieb entmutigt stehen. „Sprichst du italienisch?“, fragte er sie, um mehr Zeit zu gewinnen.
„Ja, etwas - aber nicht sehr gut. Warum?“
Tja, warum? Warum wollte er wissen, ob sie italienisch sprach? Weil er die Konversation aufrecht erhalten musste, bis ihm etwas Besseres einfiel. Richtig! Einfach weitersprechen!
„Das ist gut. Gut! Wirklich gut! Man kann nie genug Sprachen kennen.“, faselte er, während er gleichzeitig angestrengt versuchte, sich mit dem Bahnhofsgelände vertraut zu machen.
„Ja, also ich muss dann...“, sagte sie und war gerade dabei, ihre Taschen von dem Gepäckwagen zu nehmen.
„Nein! Halt! Was machst du? Du kannst mich hier nicht einfach stehen lassen. Ich kenne mich hier nicht aus. Ich brauch' ein Hotel.“, stammelte er hilflos auf sie ein, bis er plötzlich den kleinen Kiosk sah, auf dem ein erleuchtetes Schild mit dem Wort Informazione prangte. Das war die Rettung, zumindest für die nächsten fünf Minuten. „Dort, schau!“, stieß er aus und zeigte auf den Kiosk. „Die wissen sicher über Hotels Bescheid“, und ohne auch nur ihre Reaktion abzuwarten, schob Alex den Trolley über den schwarzgenoppten Linoleumboden bis zur Informationze. Er blickte sich kein einziges Mal nach ihr um. Die Frau war ihm einen Gefallen schuldig, schon alleine wegen des Tickets. Deshalb war er sicher, dass sie ihm wieder folgen würde, obwohl sie mit seiner Geschwindigkeit unmöglich mithalten konnte.
„Was für ein Hotel willst du denn?“, fragte sie ihn, als sie vor der Information standen. Sie hatte also eingewilligt. Sie diskutierte nicht die Frage eines Hotels an sich,
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Eva Indra Bis aufs Blut
sondern beschäftigte sich bereits mit dem wie. Alex war einigermaßen überrascht: Diese Frau schien ziemlich leicht zu führen sein, man musste sie offenbar einfach vor vollendete Tatsachen stellen, musste die Entscheidungen fällen, ohne sie zu fragen. „Hmmmh? Das ist eigentlich egal. Nicht zu weit von hier, wenn's geht...“
Die Kleine nickte verstehend und gab diese Angaben sogleich im fließenden Italienisch an die Dame hinter dem Schalter weiter. Kaum hatte sie von Englisch ins Italienische übergewechselt, war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Sie sprach unglaublich schnell und es schien Alex, als ob sie ihre Arme und Hände einsetzte, wo immer es auch möglich war, um jedem ihrer Worte mehr
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