Eva Indra
sie Alex. „Wenn es sein muss. Wir haben keine Zeit - du noch weniger als ich. Ist dir eigentlich bewusst, dass wir auf der Flucht vor der Polizei sind?“
Da war es wieder. Sein einschüchterndes Gerede, nur um ihr Angst zu machen. Es machte ihm offensichtlich unglaublichen Spaß, sie ununterbrochen an ihre Tat zu erinnern. Konnte er nicht wenigstens mal für einen Moment damit aufhören? Konnte er sie nicht einmal als Frau behandeln, einfach nur als Frau, als junge Frau, die atmete, lebenslustig war und auch noch andere Bedürfnisse, andere Gedanken hatte, als nur Flucht? Konnte er nicht endlich aufhören mit ihr nur als Mörderin zu sprechen? Wenn er nur wüsste, wie es in ihr zuging, dieser aufgeblasene Besserwisser. Was wollte er überhaupt von ihr? Nichts wollte er von ihr, beantwortete sie sich die Frage gleich selber. Er wollte das Buch, nicht sie. Nur deswegen war er bei ihr. Und vielleicht, ging es ihr durch den Kopf, war es gerade das, was sie so sehr an ihm störte. Sie war quasi seine Gefangene wegen eines Stapels gebundener Seiten, die inzwischen wahrscheinlich in Wien angekommen waren. Warum nannte sie ihm nicht einfach die Adresse von ihrer Freundin in Wien und damit wäre der Fall erledigt gewesen? Doch Anna wusste nur zu gut, dass sie insgeheim erleichtert war nicht mehr allein zu sein. Sie war ihm dankbar dafür, dass er einen klaren Kopf behielt, während sie in ihrem nur immer wieder diesen dumpfen Aufschlag hörte, als die Spitze des Schürhakens Leonards Schädeldecke spaltete und in sein Gehirn drang. Von ihrer eigenen Tat entsetzt, hatte sie ihre Waffe dann losgelassen. Starr hatte sie gestanden und während Leonard stürzte, war das Metall aus seinem Kopf buchstäblich herausgefallen. Mit entrücktem, fast wissenschaftlichem Erstaunen hatte sie gesehen, dass kein Blut von dem Eisen tropfte, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Ihr wurde schlecht. Als Anna wieder zu sich kam, waren sie mittlerweile auf der kurvenreichen Uferstraße, die sie entlang des Sees auf die Bundesstraße zu bringen versprach, die nach Meran und Bozen führte. Doch soweit war es noch nicht. Sie waren nun schon wieder über eine halbe Stunde mit dem Auto unterwegs, aber sie kamen nur im Schritt-Tempo voran. Irgend etwas musste vorgefallen sein, denn schließlich kam der Verkehr völlig zum Erliegen. Als Anna einen ihnen entgegenkommenden Motorradfahrer sah, drehte sie das Radio ab und winkte ihn herbei.
„Scusi! Che è successo?“
„Ein Lastwagen ist steckengeblieben und kann nicht mehr weiter. Ihr dreht besser um!“, antwortete der fesche Italiener, nachdem er seinen Helm abgenommen und erst mal herausfordernd gelächelt hatte. Früher hatte er nie einen Helm getragen, aber es war seit kurzem Gesetz geworden und mit der Polizia war nicht zu spaßen. Und die Coolheit der Hells Angels, die ihre Helme lediglich als Ellenbogenschoner benutzten, hatte er einfach nicht. So saß er mit plattgedrücktem Haar auf seiner Moto Guzzi und versuchte trotzdem einigermaßen gut auszusehen.
„Was hat er gesagt?“, fragte Alex neugierig.
„Die Straße ist blockiert!“, antwortete Anna und blickte umgehend auf die Landkarte. „Schau! Hier! Es gibt noch eine andere Straße, die können wir nehmen!", schlug sie vor und zog die Straße mit ihrem Finger auf der Karte nach. „Komm, dreh‘ um!“ „Was, hier? Weißt du, wie eng es hier ist?“, entgegnete Alex. Doch Anna zuckte nur frech mit den Schultern und wartete ab. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass sie in einem Auto saß, das gewendet werden musste. Aber so dilettantisch wie Alex hatte sich noch keiner angestellt. Nicht nur, dass er ganz eindeutig enorme Schwierigkeiten hatte den Rückwärtsgang einzulegen, wobei das Wort "Schwierigkeiten" noch untertrieben war. Er schaffte es auch offensichtlich nicht, das Lenkrad bis zum Anschlag zu bringen. Typisch Amerikaner, dachte sie sich. Ohne Servolenkung sind sie hoffnungslos überfordert. Und wenn eine Straße nicht mindestens so breit war wie die
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Eva Indra Bis aufs Blut
Via Cristoforo Colombo in Rom und außerdem schnurgerade, waren sie schon von vornherein verloren. Belustigt beobachtete sie Alex von der Seite, wie er mit gehetztem Blick hoffte, dass auf der Gegenfahrbahn kein Wagen um die Kurve geschossen käme und er gleichzeitig wie ein wildgewordener Pavian im Getriebe rührte. Langsam, sehr, sehr langsam schaffte er es aber dann doch, den Wagen in die andere Richtung zu drehen und seine
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