Eva Indra
Sprechanlage. „Lisa?“, fragte Anna zurück, obwohl ihr eine Männerstimme geantwortet hatte. „Nein! Wer zum Teufel ist das?“
„Ich bin eine Freundin von Lisa Koller. Sie wohnt hier. Ich weiß nur leider ihre Wohnungsnummer nicht mehr“, sagte sie fast schon weinerlich freundlich, während Alex seine Nerven zu verlieren schien. „Wissen Sie vielleicht auf welcher Nummer sie wohnt?“
„Nein!“, antwortete der Unbekannte und mit einem Knacken war er weg.
Anna war über die Unfreundlichkeit dieses Mannes perplex, denn so hatte sie die Wiener eigentlich nicht in Erinnerung behalten. Was sollte sie jetzt tun? Decouragiert schritt sie ein paar Meter auf den Gehsteig hinaus und blickte verzagt an der Fassade empor. Niemand hätte bei den etwa fünfzehn gegenwärtigen Wohnungen von der
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Eva Indra Bis aufs Blut
Straße aus die Nummer eines Appartements erraten können. Wirklich niemand! Die Hausverwaltung hatte ganze Arbeit geleistet. Alex zappelte wie ein Hampelmann auf und ab. Dennoch musste auch er sich mit dem Faktum abfinden, dass man nichts weiter machen konnte, als sich bis zum darauffolgenden Morgen zu gedulden. Niedergeschlagen kehrten sie wieder ins Auto zurück, da die Alternative, Lisa anzurufen auch nicht möglich war. Sie hatten weder ein Handy noch österreichisches Geld, um einen Anruf von einer Telefonzelle zu tätigen.
Der Achter, so nannte man die Straßenbahn mit der Nummer acht in Wien, weckte Anna auf. Das war verwunderlich, denn sie hatte eigentlich das Gefühl gehabt, die ganze Nacht kein Auge zugemacht zu haben. Na, wie auch immer. Ein Blick auf die Uhr offenbarte Schreckliches; denn es war sechs Uhr dreißig in der Früh und das war für Anna, die bei Gott kein Morgenmensch war, ohnehin mitten in der Nacht. Darüber hinaus hatte sie einen derartigen Appetit entwickelt, dass sie wehmütig auf den "Schlief" blickte, der aber leider noch nicht geöffnet hatte. Es gab doch nichts Besseres, als eine frische Semmel mit Butter. Noch in himmlischen Sphären schwelgend, wurde sie mit einem Mal abgelenkt – ein älterer Mann war mit einem kleinen Pudel an der Leine drauf und dran, das Haus zu verlassen. Annas Lebenssinne kehrten blitzartig zurück. Sie flitzte aus dem Wagen und erwischte die offene Türe gerade noch rechtzeitig, bevor sie wieder ins Schloss gefallen wäre.
„Guten Morgen“, begrüßte sie atemlos den Anrainer und mogelte sich ins Haus hinein. In dem Moment, indem sie sicher sein konnte, dass der Hundeliebhaber außer Sichtweite war, zog sie sich einen ihrer Schuhe aus, klemmte ihn zwischen das Portal und humpelte über die Straße zurück, um Alex zu wecken.
Anna war fassungslos. Dieses nostalgische Wiener Treppenhaus katapultierte sie wie in einer Zeitreise in ihre Kindheit zurück. Der Geruch der Schmierseife, mit der man offensichtlich nach wie vor die Stiegen wusch, das schale einfallende Licht, das durch die Fenster in den Mezzaningeschossen drang und doch nicht genug Kraft hatte das dunkle Stiegenhaus auszuleuchten, paarte sich mit den unvergleichlichen Klarinettenklängen, die schon seit Jahrzehnten wohlklingend in aller Herrgottsfrüh aus der Wohnung mit der einzigen schwarzen Türe drang und so stets das Ambiente dieses Hauses erheitert hatte. Siebenundfünfzig Stufen würden es bis zu Lisas Wohnung sein, sie hatte sie als Kind oft genug gezählt.
„Hier ist es!“, sagte Anna bestimmt und läutete an der Klingel am Türstock. „Komisch!“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Alex, nachdem niemand geantwortet hatte.
„Das ist überhaupt nicht komisch! Mir ist der Humor vergangen“, entgegnete Alex erbittert.
„Sie ist nicht zu Hause“, stellte Anna erklärend fest, nachdem sie mehrmals angeläutet hatte.
„Wer sagt denn, dass sie hier überhaupt noch lebt?“, warf Alex ein.
„In Wien zieht man selten um“, entgegnete Anna, als wäre damit alles erklärt. „Vielleicht ist sie auf Urlaub“, dachte sie laut, doch das hätte sie sich sparen können, denn Alex wurde nur noch unleidlicher. Rastlos schritt er wie ein zerstreuter Professor vor dem Eingang auf und ab, bis er plötzlich wie vom Blitz getroffen stehen blieb und das Schloss der riesigen Flügeltüre betrachtete.
Anna erwartete mit Unbehagen, was dies zu bedeuten hatte. Doch noch ehe sie sein Vorhaben auch nur erahnt hätte, hatte er schon herkulisch mit seinen Händen gegen diese Verankerung gestoßen. Anna warf ihm einen skeptischen Blick zu, der postwendend zurückgeworfen wurde.
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