Eva Indra
Blut
bedrohlich nahe dem Abgrund stand, war Alex mehr als Recht. Spring doch, dachte er und meinte es wirklich so. Doch als hätte sie seine Gedanken lesen können, drehte sie sich mit einem Mal zu ihm um und sagte:
„Wie schön doch das Leben sein kann. Hier komm ich mir vor wie Heidi. Heidi, du weißt schon, die mit dem Großvater und dem Peterle...“
„Anna! Wir müssen jetzt weiter“, stieß er aus und unterbrach dabei ihren schon kindlichen Übermut.
„Ja! Ja! Du bist mir auch ein Peter, ein Miesepeter bist du, nichts weiter.“
Sie hatten den Weg über Bozen gewählt, weil sie damit einen Grenzübergang weniger vor sich hatten. Der Weg auf der Landkarte hatte entmutigend lange ausgesehen, doch in Wahrheit war er noch viel länger und mühseliger, als er auf dem Papier abgebildet war. Sie rollten die kurvenreiche Bergstraße herab und als sie schließlich auf der Bundesstraße nach Meran waren, war es bereits später Nachmittag geworden.
„Darf ich dich etwas fragen?“, sagte Alex, nachdem sie sich wieder einmal stundenlang angeschwiegen hatten.
Anna nickte und blies sich den Rauch aus den Lungen. Sie hatte offensichtlich bereits Vertrauen ins Auto fahren gefunden, denn sie rauchte wieder wie ein Schlot, ohne dabei die Kontrolle über das Auto zu verlieren.
„Woher kommt diese Narbe in deinem Gesicht. Du musst aber nicht antworten, wenn du...“
Anna winkte ab.
„Das geschah an dem Abend, an dem ich Leonard kennen gelernt habe...“
„Was? Mein Vater hat das getan?“
„Nein, oh nein! Er hatte mir das Leben gerettet“, antwortete sie und versank gleich daraufhin in Gedanken. Alex erwartete gespannt die Aufklärung ihrer Aussage, statt dessen fragte sie aber „Glaubst du, sie haben ihn schon gefunden?“
„Ich weiß nicht, was meinst du? Heute ist Montag. Habt ihr irgendwelchen Besuch erwartet?“
„Nicht das ich wüsste! Aber du kennst ja Leonard - der sagt nie viel und dann plötzlich kommt irgend so ein wichtiger Kunstheini und...“
„Hm“, murmelte Alex, denn er kannte die Gewohnheiten seines Vaters diesbezüglich eigentlich überhaupt nicht. Nichtsdestotrotz, sollten sie wirklich seine Leiche bereits gefunden haben, bedeutete es, dass der ihnen bevorstehende Grenzübergang, mal abgesehen von der unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass er nicht besetzt sein möge, eine zusätzliche Gefahr darstellte. Dennoch wusste Alex nur zu gut, dass es zweifelsohne Anna sein würde, nach der sie fahnden. Und nach dem Grenzübergang? Würde er dieses Buch in Wien wirklich auffinden? Na ja, wenn wenigstens dort alles reibungslos ablaufen sollte, wäre er spätestens mittwochs wieder in L.A. Er musste unbedingt verhindern, dass noch weitere verzögernde Vorfälle stattfanden.
„Ich finde, du solltest deine Haare abschneiden“, sagte er zu Anna, nachdem er sie eine Weile von der Seite beobachtet hatte.
„Was? Du spinnst ja! Weißt du, wie lange es gebraucht hat...“
„Bis zum Kinn, dann würden deine Haare deine Narbe abdecken, wenn du sie etwas ins Gesicht frisierst. Ja! Das machen wir, bleib auf dem nächsten Parkplatz stehen!“ „Nein, das werde ich nicht tun“, entgegnete sie erbost und unterstrich dies, indem sie sich kerzengerade in dem Fahrersitz aufrichtete.
69
Eva Indra Bis aufs Blut
„Anna, fahr gefälligst auf den nächsten Parkplatz. Ich hab' jetzt deine Allüren wirklich satt.“
Anna hatte den Wagen auf einem Parkplatz kurz vor der österreichischen Grenze zum Stehen gebracht. Alex hatte nicht mehr daran geglaubt, dass sie hier lebend ankommen würden, denn sie war die letzten Kilometer derartig aggressiv auf Vollgas gefahren, dass er sich schon im Straßengraben gesehen hatte. Alex schnaufte seine Angst aus den Lungen, während Anna das Auto verlassen hatte, um in den Gebüschen zu verschwinden.
„Wohin gehst du?“, rief Alex ihr nach.
„Ich muss mal! Willst du mitkommen und mir zuschauen!?“, fauchte sie ihn an und verschwand in dem Dickicht, statt in einer der naheliegenden Toilettenanlagen. Alex zündete sich eine Zigarette an. Diese Frau hatte eine derartige Wut auf ihn, dass er sich plötzlich vorstellen konnte, dass sie wirklich jemand in diesem Zustand erschlagen hätte können. Verwunderlich war nur, dass sie andererseits wieder so feige war und gleich die Flinte ins Korn warf, kaum hatte man sie umzingelt. Wenig später war sie wieder zurück und setzte sich frech auf die Motorhaube des Wagens. „Und jetzt?!“, fragte sie mit ihren Haaren
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