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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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den Kriegsjahren nicht mehr.
    Und zudem spürte er neuerdings eine veränderte Atmosphäre, wenn er im Schlafwagen nach Rom unterwegs war. Die anderen mitreisenden Abgeordneten und Senatoren der Südtiroler Volkspartei, deren Chef er trotz allem immer noch war, schauten nicht mehr bei ihm im Abteil vorbei, um vor dem Zubettgehen noch gemeinsam ein Schlückchen zu trinken. Eiskalt wünschten sie ihm eine gute Nacht, und dann verschwand jeder in seinem Abteil. Magnago wusste, dass sie hinter seinem Rücken davon sprachen, er habe sich an die Italiener verkauft, dass sie sein geduldiges Aushandeln kleiner Lösungen mit der Regierung in Rom, mit österreichischen Behörden und Vertretern der italienischen Südtiroler für das typische Geschachere von Politkarrieristen hielten; dass sie etwas vom Ausverkauf der Heimat murmelten, vom einem Übermaß der »Realpolitik« und, als schlimmsten Vorwurf, das Wort »Kompromiss« zischten.
    Magnago wusste aber: Die einzige Alternative zu einem Kompromiss waren Helden, und Helden, angefangen bei Andreas Ho fer bis zu Sepp Kerschbaumer, hatte Südtirol schon zu viele er lebt. Wahrscheinlich hielten sich sogar diese gewissenlosen Bom benleger, die gerade wieder getötet hatten, für Helden. Magnago war sich darüber im Klaren, dass er als Einziger von der italienischen Regierung jene Garantie sprachlicher und administrativer Eigenständigkeit erhalten konnte, auf die die Südtiroler seit einem halben Jahrhundert warteten, und das gerade deshalb, weil er selbst überhaupt nicht zum Helden taugte.
    Jetzt hob er sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht. Vor ihm, auf dem Schreibtisch aus Nussbaum, lag ein Stapel Blätter: der erste Entwurf eines Statuts der künftigen Autonomen Provinz Bozen. Weitere anstrengende Fahrten nach Rom, langwierige Verhandlungen und Kompromisse waren noch nötig, bis dieses Statut seine endgültige Fassung erhalten würde: 137 Artikel, 25 Unterartikel, 31 Erläuterungen. Es gab noch viel zu tun.
    Silvius Magnago rieb sich die Augen, setzte die Brille auf und nahm das erste Blatt zur Hand.
    Wenn sie zusammen waren, nahm Gerda ihre Tochter zu sich in das breite Bett in ihrer Kammer im Erdgeschoss. Dann klammerte Eva sich an sie, und der Körper der Mutter war ihr sowohl ein Rettungsboot als auch der Ozean, auf dem es trieb. Gerda ließ sie gewähren.
    Eva hatte anfangen, sich darüber klar zu werden, dass sie keinen Vater hatte. Da war sie nicht die Einzige: Ulli und Sigi zum Beispiel hatten auch keinen. Doch die beiden hatten keinen mehr, sie dagegen hatte noch nie einen gehabt. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Unterschied richtig verstand, doch dass es einen gab, war nicht zu leugnen.
    Etwas anderes noch hatte Eva nie besessen: neue Schuhe. Sie hatte immer die alten von Ruthi oder deren Schwestern aufgetra gen, sogar die von Ulli, der doch ein Junge war. Jetzt allerdings war Gerda zur Köchin befördert worden, erhielt mehr Lohn, und so hatte sie beschlossen, ihrer Tochter ein Paar neue Schuhe zu kaufen. Eva saß auf einem Schemel in dem Schuhgeschäft unter den Arkaden ihres Städtchens und konnte kaum fassen, welche Schmuckstücke sie da an den Füßen hatte. Zwar waren es robuste Schuhe mit einer Kreppsohle, aber ihr kamen sie noch schöner vor, als wenn sie aus schwarzem Lack gewesen wären.
    Draußen auf der Straße hielt Eva den Blick gesenkt, um das Schauspiel zu genießen, wie die neuen Schuhe jeden ihrer Schrit te mitmachten.
    »Das ist dein Vater.«
    Eva zögerte aufzuschauen, doch der Satz, der ihrer Mutter da über die Lippen gekommen war, zählte nicht zu denen, die man alle Tage hörte. Sie zum Beispiel hatte ihn in ihren fünf Lebensjahren noch kein einziges Mal gehört.
    »Der in dem dunklen Anzug.«
    Jetzt hob sie den Blick. Auf der Straße und dem Gehweg war nicht nur ein Mann im dunklen Anzug zu sehen.
    »Welcher denn?«, fragte sie.
    »Der da hinten. Der uns gerade anschaut.«
    Viele Männer schauten Gerda an, aber nicht, weil sie der Vater ihrer Tochter gewesen wären.
    »Giamo« , sagte Gerda, die es plötzlich eilig zu haben schien. Sie nahm die Tochter bei der Hand und zog sie mit großen Schritten mit sich fort.
    Eva versuchte, an den Männern, die an ihnen vorübergingen, eine Ähnlichkeit festzustellen, ein eindeutiges Zeichen gemeinsamer Abstammung. Aber bei keinem konnte sie auch nur die Spur davon entdecken. Denn als er Gerda und dieses Kind an ihrer Hand sah, war Hannes Staggl so rot angelaufen wie die Geranien auf dem

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