Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
General De Lorenzo, der das Blitzlichtgewitter der Fotografen auf sich zog.
Durch eine Sprengstoffladung war an der Cima Vallona, der Porzescharte, wie sie auf Deutsch hieß, an der Grenze zwischen Osttirol und der italienischen Provinz Belluno ein Strommast gefällt worden. Eine Falle: Die zum Tatort ausgesandten Soldaten erwartete ein Minenfeld, und so waren Armando Piva, Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Olivo Dordi, kaum beim umgestürzten Mast angekommen, in ihrem Mannschaftswagen in die Luft gesprengt worden.
Neben Politikern und Generälen besuchten Tausende einfacher Bürger die Aufbahrungshalle. Deutschsprachige Südtiroler, Italiener aus Alto Adige, aus dem Comelico und dem Cadore, Soldaten, Touristen … Das Verständnis für die Attentäter war mittlerweile völlig aufgebraucht. Die Erfahrungen der Menschen aus Innichen, wo die Leichen aufgebahrt waren, gaben nichts her, was dieses Blutvergießen gerechtfertigt hätte. Ein Bauer, noch jung, aber schon mit wettergegerbter Haut, mit der traditionellen blauen Schürze über dem weißen Hemd, blieb einige Augenblicke mit gesenktem Haupt vor den Särgen stehen. Dann war die Alte an der Reihe.
Die Namen der vier Alpini kannte sie nicht. Vielleicht hatte man sie ihr genannt, aber es waren italienische Namen und daher nicht leicht zu merken. Aber sie bedeuteten ihr auch nichts, diese Namen, sie waren das, was am wenigsten zählte. Sanft fuhr sie mit der Hand über jeden einzelnen Sarg. Sie waren verschlossen: Minen kennen keine Rücksicht mit den Körpern, die sie berühren.
Mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hatte der Krieg der Frau alle vier Söhne genommen, die ungefähr das Alter der vier Gebirgsjäger in den geschlossenen Särgen hatten. Von diesen Söhnen hatte die Frau niemals Abschied nehmen können; um sie zu beweinen, hatte sie nur die Briefe der Kommandantur, in denen man ihr deren Tod mitgeteilt hatte. Ihre Namen, ja, die gab es noch, eingemeißelt in die Marmorplatte am Friedhofseingang, zusammen mit denen der anderen Gefallenen aus ihrem Ort. Doch Namen nützten einem nichts mehr, ein Name konnte kein Heu mehr mähen, keine Schindeln auf dem Dach reparieren, einem nicht die Freude eines Enkelkindes schenken. Namen waren wirklich das, was am wenigsten zählte.
Die vier jungen Männer waren getötet worden, genau wie ihre Söhne. Was machte es da, dass sie nicht Sepp, Gert, Manfred und Hans hießen, sondern Francesco, Mario, Olivo und Armando? Auch der Name des Ortes, wo sie gestorben waren, zählte wenig: Porzescharte oder Cima Vallona, hatte das irgendeine Bedeutung? Die vier waren tot, ihre Söhne waren tot, und für die Toten konnte man nur noch beten.
Die alte Frau nahm den Rosenkranz aus der Schürzentasche und begann.
Silvius Magnago spreizte die Ellbogen, beugte den Nacken und legte die Stirn in die auf der Schreibtischplatte verschränkten Hände. Dabei hoben sich die für seinen schmächtigen Körper stets zu breiten Anzugschultern wie Flügel hinter seinem Kopf. Die Brille mit dem dicken schwarzen Gestell lag vor ihm neben dem Federhalter, die Krücken lehnten an der holzverkleideten Wand. In dieser Haltung saß er lange da, den Rücken gebeugt, die Stirn auf dem Schreibtisch, die Augen geschlossen. Er war erschöpft.
Im Juni waren auf der Porzescharte vier Soldaten durch ein heimtückisches Attentat ums Leben gekommen. Im Juli hatten Neofaschisten in Bozen »für ein italienisches Alto Adige« demonstriert. Im September explodierte am Bahnhof in Trient eine Bombe in den Händen der Polizeibeamten Filippo Foti und Edoardo Martini. Beide waren auf der Stelle tot. Dies war der letzte tödliche Anschlag des Südtiroler Terrorismus, aber das konnte Silvius Magnago damals noch nicht wissen. In den Fernsehnachrichten war eine an diesem Schreibtisch aufgenommene Erklärung des Vorsitzenden der SVP gesendet worden.
»Die jüngsten Sprengstoffanschläge haben bei der Südtiroler Bevölkerung, gleich welcher Sprache, große Bestürzung ausgelöst. Die Probleme lassen sich nur mit demokratischen Mitteln lösen. Wir verweigern uns dem Irrglauben, eine Lösung ließe sich herbeibomben.«
In seinem wie immer tadellosen Italienisch hatte er diese Wor te gesprochen, doch diesmal klang sein deutscher Akzent noch härter als gewohnt. Der Ansager der RAI hatte ihn folgendermaßen vorgestellt: Silvius Magnago, der Vorsitzende der Südtiroler Volkspartei und früherer deutscher Wehrmachtsoffizier.
Magnago fühlte sich so erschöpft wie seit
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