Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Ahnung, wie vielen Frauen dies Nacht für Nacht passiert. Ich schon, ich kenne ihre Ehemänner.«
Mit dem Hebel neben dem Steuer blockierte er die schneegefüllte Schaufel auf halber Höhe. Dann drehte er sich zu mir um und schaute mich an. Er hatte immer noch diese Rehaugen wie als kleiner Junge; seine Wimpern waren fast zu lang für einen erwachsenen Mann:
»Nein, Eva. Das hat keine Frau verdient.«
Und er streichelte mir übers Gesicht. Ganz kurz, sanft, beschützend.
Frage: Wenn ein Mann, der Männer liebt, auch eine Frau lieben könnte, würde sich diese Frau dann endlich geliebt fühlen?
Eine sinnlose Frage. Ulli ist tot, und die Antwort werde ich niemals erfahren.
Die Ebene hat sich verbreitert. Nun ist mehr Raum zwischen dem Meer und den Bergketten. Die Extreme haben sich ein wenig angenähert; die Erde in der Ebene ist weniger rot, nicht mehr ganz so schamlos fruchtbar; die Berge im Hintergrund wirken weniger schroff und karg. Wir fahren durch einen winzigen Bahnhof, ein blaues Schild huscht draußen am Fenster vorbei, ich lese es rasch, bevor es verschwunden ist: MINTURNO SCAURI.
Dann hält der Zug kreischend vor einer Fabrikhalle, die wie ein Raumschiff aus der Landschaft ragt. Eine Schrift in riesigen Lettern: MANULI FILM. Genau vor meinem Fenster erläutert ein Schild das Geschäftsfeld des Unternehmens und die Einsatzbereiche seiner Folien. Der Zug steht noch, und ich habe Zeit, es zu lesen.
PRODUKTE: Mineralwasser, Erfrischungsgetränke, Kakao, Kaffee, Tees, Kräutertees, Fleisch und Fleischprodukte, Reinigungsmittel, Tabakwaren, Druckerzeugnisse, Frischnudeln, Trockennudeln, Reis, Fertiggerichte, Backwaren, Süßwaren, Fischprodukte, Gemüse- und Obstwaren, Tiefkühlprodukte, Parfümeriewaren, Soßen, Würzmittel, Gewürze, Salz, Softdrinks.
VERPACKUNGEN: Bag in box, Plastikflaschen, Flowpack-Taschen, Tragetüten, Kissentaschen, Aufkleber (als Hülle, Dekoration oder Verschluss), mehrschichtige und koextrudierte Kunststofffolien, einschichtige Kunststofffolien, hitzebeständige Folien, Einwickelfolien, Klebebänder.
Kein Zweifel, die Liste ist vollständig. Schade nur, dass die Lagerhalle der Firma MANULI FILM völlig leer ist, dass sich Unkraut durch den aufgerissenen Zementfußboden gekämpft hat, dass Fenster hier wohl niemals eingebaut wurden. Auf dem ungepflasterten Boden hinter dem Schild liegt ein Hund mit weißlichem Fell.
Als der Zug mit lautem Quietschen wieder anfährt, lässt er sich nicht stören und bleibt ruhig in der Sonne liegen.
Kurz hinter Sessa Aurunca unterbrechen die beiden Chips knabbernden Amerikanerinnen ihre Lektüre und schauen hinaus. Es ist wahrscheinlich keine Absicht, aber genau in diesem Moment fahren wir in einen Tunnel ein, und so bietet sich ihren Blicken eine der großen Sehenswürdigkeiten Italiens, ein Schatz, um den uns die ganze Welt beneidet: der weiße Streifen an der Tunnelwand, der in Zickzacklinie neben uns herrast.
1967 – 1968
Die alte Frau war um die sechzig, aber in zehn oder zwanzig Jahren würde sie auch nicht viel anders aussehen. Sie trug ein Kopftuch, das unter dem Kinn verknotet war, und auf ihren Wangen zeichnete sich ein Geflecht purpurner Äderchen ab. Ihr Rücken war krumm, eine Schulter hing ein wenig herab, und sie stützte sich mit beiden Händen auf den Knauf eines Stockes, den sie gerade vor sich hielt. Sie trug einen langen Rock, wie auch schon ihre Mutter und ihre Großmutter: Das 20. Jahrhundert, das jetzt schon zu zwei Dritteln vorüber war, hatte ihr sehr viel genommen, aber immerhin genügend Stoff für Röcke und Kleider gelassen. Über dem Rock hatte sie den enzianfarbenen Bauernschurz an und an den Füßen Babuschen aus grauem Walkloden.
Vor ihr waren vier mit weißen Tüchern bedeckte Särge aufgestellt, darum herum Blumen, hohe Kerzen … Die Alpini der Ehrenwache waren ebenso jung wie die, die bis gestern noch ihre Kameraden waren und nun in den Särgen lagen. In wachsamer Ruhestellung, die Arme auf dem Rücken, standen sie da, und ihre Blicke wirkten traurig, aber gefasst, wohl wissend, dass sich an dem Unglück, das geschehen war, nichts mehr ändern ließ und das, was nun kommen würde, noch nicht eingetreten war.
Wenige Stunden zuvor hatte Ministerpräsident Aldo Moro den vier Terroropfern die letzte Ehre erwiesen. Lange hatte auch er vor den Särgen gestanden, die Hände gefaltet, die Schultern gesenkt, im Gesicht die Verlegenheit, die das Mitleid hervorrief. Neben ihm, das Monokel im rechten Auge,
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