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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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irgendwann riefen sie alle nach ihrer Mama.
    Manchmal fragte sich der Vicebrigadiere nach dem Sinn dieser Operationen. Hundert Soldaten, die einen verschneiten Steilhang hinaufkraxelten, waren leichter zu erkennen als eine Kolonne von Panzerspähwagen. Die Terroristen dagegen bewegten sich flink über die Pfade, zu zweit, höchstens zu dritt, kannten jedes Geröllfeld, jeden Hof, jedes Felsband dieses Granitgebirges, schlichen mal diesseits, mal jenseits der Grenzsteine herum wie Gämsen, ohne Spuren zu hinterlassen.
    Und in der Tat hatten sie noch nie einen aufspüren können.
    Aber: Usi obbedir tacendo – daran gewöhnt, schweigend zu gehorchen. Er hatte noch nie daran gedacht, einen Befehl in frage zu stellen. Sonst hätte er auch nicht Carabiniere werden können.
    Ein weiterer Trost war es, hin und wieder mal zu einem Hof zu gelangen. Auch in großer Höhe fand man noch welche, vor allem in den Seitentälern des Val Venosta unterhalb der Gletscher. Es war ganz normal, dort von zehn, zwölf Kindern empfangen zu werden. Die Bauern waren arm mit ihren vielen Söhnen und Töchtern, aber zu essen hatten sie immer genug. Fünfzigtausend Lire reichten ihnen, und sie brachten ein warmes Essen für die ganze Truppe auf den Tisch. Die Frauen bedienten sie und beob achteten sie während der Mahlzeit, schweigend, aber nicht feind selig. Das war anders als bei so manchem Kellner in den Gasthäusern der Stadt, die so taten, als sprächen sie kein Italienisch, und die einem, wenn man einen Kaffee bestellte, »Nichts verstehen« antworteten oder auch »Wiederholen Sie auf Deutsch«. Und so sagte er eben, laut und deutlich: »Bringen Sie mir bitte einen Kaffee«, und dann mussten sie ihm, deutsch oder nicht deutsch, den Kaffee schon bringen. Diese Bergbauern aber sprachen tat sächlich kein Italienisch, und wenn er versuchte, sich auf Deutsch verständlich zu machen, dann hellten sich ihre Gesichtszüge auf. Später scheuchten sie die Kinder die Treppe hinauf und ließen sie ihre Federbetten den Offizieren und Unteroffizieren bringen, die sich damit in der Stube auf die Tische legten, im Warmen. Er hingegen suchte mit seinen Männern den Heuboden auf, und er bereute es nie: Im duftenden Heu ausgestreckt, im warmen Atem der Kühe, der vom darunterliegenden Stall aufstieg – besser hätte ein König auch nicht schlafen können.
    Hier dagegen, in diesem von der Finanzpolizei aufgegebenen Gebäude, machte er nachts kein Auge zu. Daher legte er sich tagsüber noch mal für ein paar Stunden auf die Pritsche, und manchmal gelang es ihm sogar, ein Nickerchen zu machen. Aber wenn es dunkel war – ausgeschlossen. Um sich wach zu halten, schrieb er. Er hatte sich einen Stapel Notizblöcke besorgt, kariert, oben zusammengeheftet, wie sie Reporter in Comicheften benutzten. Er hatte auch einige Federhalter dabei, aber jetzt wusste er, dass er sich besser mit Bleistiften ausgestattet hätte. Im Gegensatz zu Tinte konnten Bleistiftminen nicht einfrieren. Er hatte eine saubere, ordentliche Handschrift, in der er ebenso klare Fakten festhielt: dass das Magazin einer MP defekt sei, wie viele Konservendosen verbraucht wurden, dass er einen Auerhahn gesehen habe. Und Vorkommnisse beim Wachdienst natürlich.
    Er schrieb an einem wackligen Tisch, schaute immer mal wieder nach den schlafenden Kameraden, trat hinaus, um ein paar Worte mit dem wachhabenden Soldaten zu wechseln. Sein immer schon scharfes Gehör hatte sich noch weiter verfeinert. Kein nächtlicher Laut entging ihm: kein Rauschen in den Bäumen, kein Lockruf nächtlicher Raubvögel, kein Prasseln von Steinen in einem Geröllfeld, kein Knirschen und Knacken vom Gletscher her. Manchmal kam es ihm so vor, als könne er sogar die Sternbilder summen hören, die ihr hartes Licht ins kosmische Dunkel schleuderten. Daran merkte er, wie erschöpft er war.
    Er war vierundzwanzig, vier Jahre älter als der älteste seiner Männer, und er wachte über sie wie eine Mutter über ihre schutzlosen, geschwächten Kinder. Ein wenig kränklich waren sie ja auch, krank von der Angst und der Einsamkeit, von der Kälte und dem Heimweh. Auch von der Stille. Von diesem so fremden, starr daliegenden Gebirge, das Söhne gebar, die kein Gesicht besaßen, die wie aus dem Nichts auftauchten, die Kameraden in Stücke rissen und dann rasch wieder in seinem Schoß verschwanden.
    Genau hier hatten die Terroristen vor einiger Zeit drei Zollbeamte getötet. Die Grenze verlief in weniger als zehn Metern Entfernung, und

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