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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Blechnäpfen, in denen man sich auch wusch.
    Und die Qualität der Truppe? Man hatte die jungen Wehrpflichtigen, die Aushilfscarabinieri und Carabinieri, zwar eigens ausgewählt, aber nach einem anderen Kriterium als der Leistungskraft: Der Dienst in Alto Adige war eine Bestrafung, und viele Männer waren halbe Analphabeten, deren Sinn für Disziplin und Ordnung, um es vorsichtig auszudrücken, nicht sehr ausgeprägt war. Mehr als einmal hatte der Vicebrigadiere in Meran morgens um sechs beim Weckdienst nur mit knapper Not einem Fußtritt ins Gesicht ausweichen können. Solche rüden Burschen waren es dann aber auch, die nach einem Monat des Marschierens über Pässe und Geröllfelder wie kleine Kinder in Tränen ausbrachen, wenn man sie nach ihrem Heimatdorf fragte.
    Und dann diese Kälte! Was wusste ein Kalabrese schon von Kälte? Eine Kalabrese kannte schwüle Hitze und den Scirocco, kannte die Dürre, kannte die kannibalische Sonne, die sich im Kopf festbiss, kannte den Wind, der einem den Verstand raubte, der einen euphorisch machte oder ohnmächtig werden ließ. Aber solch eine Kälte, nein, die kannte ein Kalabrese nicht. Zum ersten Mal hatte er sie im Hof der Kaserne gespürt, als er, wie ein Bettler mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend, seine Suppe essen wollte, die aber schon kalt war, bevor er seinen Löffel hineingetaucht hatte. Aber das war noch gar nichts, verglichen mit der Eiseskälte, die bei den Patrouillen oben auf den Passhöhen auszuhalten war. Nur hatte er das damals noch nicht gewusst.
    Der einzige Trost in jenen ersten Monaten in Alto Adige war die Pasta al peperoncino in einer Trattoria beim Ponte Druso, die von Süditalienern betrieben wurde und wo er gern mit seinen Kameraden essen ging. Und dann natürlich die einheimischen »Fräuleins«.
    Deutsche Mädchen hatte er sich immer wie die Kessler-Zwillinge vorgestellt, wenn sie La notte è piccola sangen: endlos lange Beine, von Strass glitzernde Oberteile, hochtoupierte blonde Haare. So elegant waren die Südtirolerinnen nicht, obwohl sie auch blond waren, aber sie trugen die Haare nicht toupiert, sondern zu einem dicken Zopf geflochten und wie ein Reserverad am Hinterkopf zusammengerollt. Aber ihre Beine, ja, das musste man zugeben: Die Südtirolerinnen hatten durchweg sehr viel schönere Beine als die Kalabresinnen.
    »Bei den Frauen hier«, hatte ihm dieser verrückte Sottotenente Genovese einmal erklärt, »liegt der Schwerpunkt ziemlich hoch.«
    Das erste Jahr hatte er mit Patrouillen längs der Staatsgrenze zugebracht, als einziger Carabiniere in einem Kommando von achtzig oder hundert Alpini. Ihr Auftrag: das Eindringen von Terroristen auf italienisches Territorium zu verhindern. Oder besser noch, sie festzunehmen, damit er, der mit Polizeiaufgaben betraut war, sie der Justiz übergeben konnte. So stiefelten sie die Pässe zwischen Italien und Österreich hinauf und hinunter – Passo di Resia, Vetta d’Italia, Val Passinia …, mit einem Rucksack, der mehr als vierzig Kilo wog, Handfeuerwaffen, Schlafsack, Zelt und Überzelt, Konserven, Blechnapf mit einem kleinen Kocher, um etwas aufzuwärmen, Schaufel, Pickel: alles auf dem Rücken. Es ging ja eben darum, dort nach dem Rechten zu sehen, wo kein Fahrzeug mehr hinkam. Wie Schildkröten sahen sie aus mit ihren schweren Rucksäcken auf dem Buckel, aber Schildkröten hatte noch niemand befohlen, Stunde um Stunde durch hüfthohen Schnee zu stapfen.
    Wochenlang kehrten sie nicht in ihre Unterkunft zurück.
    Tagsüber marschierten sie den Bergkamm entlang, und wenn es dunkel wurde, gruben sie sich ein Loch von vielleicht zwei Metern Länge, legten es mit der Plane des Überzeltes aus, tarnten es ringsum mit ein wenig Schnee, und dann hinein. Zwei Stunden Schlaf, anschließend zwei Stunden Wache. Ein höllischer Sturm fegte über die Grenzsättel hinweg – Pässe, so hatte man ihm beigebracht, waren wie Häuser mit zu beiden Seiten geöffneten Fenstern: Es gab Durchzug. Deswegen wäre es gefährlich gewesen, die Zelte aufzubauen. Hätte es nachts einen Schneesturm gegeben, wären sie, todmüde wie sie waren, ohne überhaupt etwas davon zu merken, weggefegt worden.
    Bereits nach der ersten Woche sorgten Kälte, Müdigkeit und Erschöpfung bei manch einem für Halluzinationen. Wer unter Verstopfung litt, war dafür besonders anfällig, weil die nicht ausgeschiedenen Giftstoffe bei einem geschwächten Körper aufs Hirn schlugen. Immer wieder begann einer, irres Zeug zu reden. Und

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