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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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ja nie wissen.
    Unter die Eintragung setzte er allerdings einen anderen Namen, seinen eigenen, als handele es sich bei den Bemerkungen auf dem karierten Blatt seines Notizbuchs um einen offiziellen Bericht, um ein Dokument, für das er die volle Verantwortung übernahm, als Soldat und als Unteroffizier.
    Und er schrieb: Vicebrigadiere Anania Vito.

Km 903–960
    Die Treibhäuser von Villa Literno ziehen in der Ferne vorbei, und so ist weder etwas von den Tomaten zu erkennen noch von den Arbeitssklaven aus den Nicht-EU-Ländern, ohne deren Plackerei das ganze Gemüse dort verfaulen würde. Ein langer Tun nel bringt uns nach Bagnoli, eine einzige, ununterbrochene Reihe von Industrieruinen. Umgeben sind sie von verfallenden Wohnhäusern, die mit einem blätternden Putz von unverwechselbarer Farbe verkleidet sind, einer Farbe, für die es bei uns früher einen eigenen Namen gab: fascistagrau .
    Es ist die Farbe der Häuser, die während des Faschismus in Südtirol für die Scharen von Beamten und Angestellten gebaut wurden, die das Land italianisieren sollten: Lehrer, Funktionäre, Straßenarbeiter, vor allem aber Eisenbahner schickte man zu uns hinauf. Es ist die Farbe einer Epoche und einer Ideologie, für mich aber auch ein Zusammenspiel verschiedener Gerüche. Wenn ich als Kind an den Häusern beim Bahnhof mit den Buchstaben ANNO IX EF unter dem Kranzgesims vorüberkam, drangen aus den Fenstern Düfte, die in der Küche der Familie Schwingshackl unbekannt waren: der säuerliche Geruch von passierter Toma tensoße, von Gemüsesuppe mit Parmesan. Einladende Düfte, aber doch kein Grund stehen zu bleiben, denn die Häuser der Walschen gingen mich nichts an.
    Das Verhältnis von uns daitschen Kindern zu den italienischen war einfach: Es gab keines. Sie waren eben die Walschen , und wir waren für sie die crucchi oder auch die tralli in Erinnerung an die Strommasten ( tralicci ), die »unsere« Terroristen in die Luft jagten. Es gab abgesteckte Gebiete, Einflusszonen, Ter ritorien. Für uns war es ratsam, an den Eisenbahnerhäusern schnell vorüberzugehen und ebenso an den Sozialwohnungen hinter den Kasernen, wo die Armeeangehörigen mit ihren Familien lebten. Die Kinder, die dort wohnten, kamen mir undurchschaubar und roh vor, aber wenn ich es mir heute überlege, müssen die ihrerseits nicht weniger Angst vor uns Südtirolern gehabt haben: Schließlich waren wir ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Doch egal wie, jedenfalls haben wir nie miteinander gespielt. Niemals.
    Als ich dann auf dem Internat in Bozen die Oberstufe besuchte, saß ich in einer Bank, Ellbogen an Ellbogen, mit anderen Kindern aus faschismusgrauen Häusern. Jetzt, da sie herangewachsen waren, hatten sie für mich gar nichts Undurchschaubares mehr. Ganz im Gegenteil. Während die Südtiroler Jungen den Mädchen mit Sprüchen so ungehobelt wie Brennholz kamen, musterten mich die italienischen ungeniert mit samtäugigen Blicken. Man kann sich denken, welchen Annäherungsversuchen ich den Vorzug gab.
    Ulli war da mit mir einer Meinung, ja, er war es ganz und gar, voller Leidenschaft. Als er zum Wehrdienst eingezogen wurde, erlebte er die Blicke der jungen Italiener als eine Offenbarung. Und die Traurigkeit, die in ihm heranreifte und der er später erlag, hing auch damit zusammen, dass er bei uns nur auf Männer traf, die ihre Sexualität als ein rein körperliches Bedürfnis betrachteten und praktizierten, einen Vorgang, über den man, nach alter Sitte, nicht sprach und für den man sich den hintersten, schäbigsten Winkel des Hauses aussuchte. Auch Ulli hatte es so gehalten, jahrelang, aber nur, weil er nichts Besseres fand. Und so war es kein Zufall, dass es ein Junge aus dem Süden war, in den er sich verliebte.
    Eines Nachts, als wir wieder mal zusammen in Marlenes Führerhaus die Pisten hinauf- und hinunterrasselten, sagte er es mir:
    »Ich hab mich verliebt.«
    Er hieß Costa, war Grieche, hatte schmale Hände und dunkle Augen und arbeitete in Innsbruck in einem Pub. Nach der Wintersaison wollten die beiden zusammenziehen. Costa, Costa, Costa. Unablässig kam Ulli dieser Name über die Lippen. Und er sagte auch:
    »Ich bin sein, und er ist mein.«
    Und:
    »Wenn wir zusammen sind, verstehe ich erst, warum ich auf der Welt bin.«
    Und:
    »Unsere Liebe ist größer als wir selbst.«
    Worte, süßer als eine Schachtel Pralinen.
    Ich hätte mich sehr für ihn freuen müssen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Überhaupt nicht. Ulli erlebte jetzt das,

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