Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
worüber alle Welt sprach, sang, schrieb. Jenen Zustand, der allein, so heißt es, das Leben lebenswert macht, jenes Gefühl, das den Zugang zum Himmel verspricht und zur Hölle und zu den großen Geheimnissen, neben denen alles andere bedeutungslos ist.
In jener Nacht fühlte ich mich, als habe mir mein bester Freund, mein Beinahebruder, plötzlich eröffnet, dass er in Wahr heit der Sohn eines Kaisers sei und Schätze, Paläste und Diener ohne Ende sein Eigen nenne und dass er bislang nur deshalb mit mir Graubrot und Zwiebeln geteilt habe, um mal etwas anderes kennenzulernen.
Ja, so fühlte ich mich: arm.
»Das ist ja toll. Ich freue mich so für dich.«
Ich durfte nicht hoffen, dass Ulli mir glauben würde. Dafür kannte er mich zu gut. Und in der Tat blickte er mich aus den Augenwinkeln an, sagte aber kein Wort. Vielleicht honorierte er die Anstrengung, die es mich kostete, ihm zum ersten und einzigen Mal etwas vorzulügen.
Es war ein Winter mit ständigen Schneefällen, nicht nur bei uns in den Bergen, sondern auch im südlichen Italien. In den Fernsehnachrichten wurden Bilder vom weißen Petersplatz gezeigt, die Brunnen seitlich des Obelisken waren mit Eiszapfen geschmückt. In jenem Winter waren die Pisten leicht zu präparieren, die Skifahrer begeistert, die Hotels voll. Mit anderen Worten, es war ein Jahr des Überflusses. Nur nicht für mich.
Und während ich jetzt hinausblicke, fühle ich mich wie einer dieser Reisenden, die aus den gegenüberliegenden Zugfenstern schauen und so gegensätzliche Landschaften sehen. Durch sein Fenster hat Ulli zumindest einmal im Leben den weiten Horizont der Liebe wahrgenommen. Wie meine Mutter von ihrem Fenster aus auch. Ich dagegen bin geheiratet, geschieden, hofiert worden. Habe Männer gehabt, die nur auf ein Zeichen von mir warteten, habe Männer begehrt und zu schätzen gelernt. Auch Zuneigung habe ich entwickelt – zu Carlo zum Beispiel. Aber ich erinnere mich noch zu gut an meine Mutter, als sie mit Vito zusammen war, oder an Ullis Augen, der immer wieder »Costa«, »Costa« sagte, um den Unterschied zu verkennen.
Ich scheine mich ans falsche Fenster gesetzt zu haben.
Carlo lernte ich in einer herrlichen Villa ein wenig außerhalb von Bozen kennen, und zwar bei der Einweihung eines großen privaten Planungsbüros, die ich organisiert hatte. Der Abend war schon fast vorüber und alles gut gelaufen, die zahlreichen Gäste kamen auf ihre Kosten, und ich konnte mich endlich ein wenig entspannen. Vielleicht überflüssig zu erwähnen, dass Carlo ohne seine Frau gekommen war. Von unserem ersten Gespräch habe ich in Erinnerung, dass er irgendwann zu mir sagte:
»Die meisten italienischsprachigen Altoatesini denken, dass ihr deutschsprachigen Südtiroler alle Nazis seid.«
Und ich antwortete ihm:
»Und die meisten deutschsprachigen Südtiroler denken, dass ihr italienischsprachigen Altoatesini alle Faschisten seid.«
»Die könnten sich verbünden und dem Rest der Welt den Krieg erklären. Ich bin aber kein Faschist. Bist du ein Nazi?«
»Nein.«
»Dachte ich mir’s doch. Ich bin übrigens in Bozen geboren, als Sohn eines Eisenbahners aus Isernia und einer Lehrerin aus Salerno, und ich lebe immer noch gern hier, weil es der einzige Ort Italiens ist, wo sich Italiener nur als Italiener fühlen und nicht als Sizilianer, Neapolitaner, Veneter oder Piemonteser. Wenn nicht gar als Einwohner von Acitrezza oder irgendeines anderen Dörfchens, nicht zu verwechseln mit Acireale – ein Riesenunterschied, nein, mit den Leuten dort wollen sie keinesfalls in einen Topf geworfen werden.«
»Aber wenigstens wird dir«, sagte ich, »südlich von Verona nicht stets die gleiche berühmte Frage gestellt, die ich so oft höre.«
»Ich kann mir denken, was das für eine Frage ist: ›Darf ich dich zum Essen einladen?‹«
»Nein. ›Fühlst du dich eher als Italienerin oder als Deutsche?‹«
»Und das wirst du tatsächlich gefragt?«
»Immer wieder. Von allen.«
»Das ist bestimmt sehr lästig. Aber darf ich dich mal was fragen: Fühlst du dich eher als Italienerin oder als Deutsche?«
»…«
»Okay. Dann frag ich dich was anderes: Darf ich dich mal zum Essen einladen?«
Napoli Campi Flegrei, Napoli Mergellina. Wir sind in den Bauch der Stadt am Vesuv, in seine Eingeweide eingetaucht, fahren jetzt durch U-Bahn-Tunnel.
Ohne Halt passieren wir die unterirdischen Bahnhöfe Piazza Amedeo, Montesanto, Piazza Cavour. Sie schießen vorbei, voneinander getrennt durch
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