Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
stockdunkle Stollen, zucken auf wie Blitze, die man sich mit geschlossenen Augen vorstellt. In hohem Tempo rasen wir über das mittlere Gleis, während auf den Bahnsteigen der Nebengleise, wie an einem Werktag, Menschen warten, die vielleicht zur Arbeit müssen, zum Zahnarzt, eine Freundin besuchen wollen. Im Kontrast zu dieser Alltäglichkeit wirkt unser Zug wie ein Supertanker in einem Flüsschen, ein Lkw auf einem Radweg. Ein Gefühl, als würden wir ratternd in die Privatsphäre der Stadt eindringen. Fast so wie in meinem Traum! Mit umgekehrten Rollen allerdings. Nun bin ich der Passagier, der durchs Zugfenster in die Schlafzimmer anderer Leute schaut.
Am Bahnhof Piazza Garibaldi halten wir. In bläuliches Neonlicht getaucht, mit Kacheln wie im Leichenschauhaus und den verlassenen Bahnsteigen vermittelt er den Eindruck, als könne jemand, der hier aussteigt, im Nichts verschwinden und nie mehr auftauchen.
»Orangensaftmineralwassercolapizzabelegtebrötchen!«
Sie müssen in der Totenstille dieses an den Kalten Krieg erinnernden Bahnhofs eingestiegen sein und preisen jetzt, wie zum Ausgleich, brüllend und ohne Erbarmen mit ihren Stimmbändern ihre Waren an. Sie schleifen riesengroße Plastiktüten durch die Gänge und blaue Fensterputzereimer, in denen sie kalte Getränke aufbewahren. Es sind alte und junge Männer, Bübchen, aber keine einzige Frau. Ein dunkelhäutiger Mann mit fetten Armen steckt den Kopf in unser Abteil, und die beiden Amerikanerinnen starren ihn erschrocken an, als wäre er ein Mörder und seine Tüte voller Brötchen eine tödliche Waffe. Ich verneine mit einem Kopfschütteln, und der Mann zieht weiter und lässt eine Spur von Wasserspritzern aus seinem übervollen Eimer hinter sich zurück.
Die Männer, die hier schwarz Essen und Getränke verkaufen, sorgen für einen dringend notwendigen Service, weil in dem Fernverkehrszug Speise- und Bistrowagen abgeschafft wurden. Da wir uns in Neapel befinden, einer Stadt, wo sich Politik und Kriminalität durchdringen, könnte man auf den Gedanken kommen, dass dies vielleicht kein Zufall ist.
Endlich wieder die Sonne. Neapel hatte den Zug verschluckt, ihn im Mund hin und her gewendet und wieder ausgespuckt wie einen Olivenkern.
Ich sehe die blauen Schilder des Hauptbahnhofs Napoli Centrale, den Bahnhof selbst aber nicht. Unmittelbar neben den Gleisen erheben sich hautfarbene Wohnblöcke, Würfel und Quader, denen jede Schönheit abgeht. Dann tauchen die Kräne am Hafen auf. Darunter Hunderte, Tausende, Zehntausende von Containern, fast alle riesengroß mit HANJIN, CHINA SHIPPING oder Ähnlichem beschriftet. Man könnte glauben, Italien unterhalte ausschließlich mit China Handelsbeziehungen.
Jetzt sind wir nur noch wenige Meter vom Meer entfernt, durch das Zugfenster meint man fast, es berühren zu können; seit wir Rom verlassen haben, sind wir ihm nicht mehr so nahe gekommen. Klippen, in der Sonne glitzernde Wellen, Angler mit ihren Ruten und hellen Hüten auf dem Kopf, aber auch Leute in dicken Mänteln. Jeder begegnet dem Frühling auf seine Weise. In Torre del Greco dient eine Mauer als vertikale Müllhalde, ein Berg aus Abfallsäcken hat sich aufgebaut, der sogar bestiegen wird. Aber nicht nur das. Obendrüber, wo der Müll noch etwas vom Putz frei gelassen hat, haben Menschen zarten Gefühlen Ausdruck gegeben. VERZEIH MIR, GELIEBTE, steht da, und SÜSSE, ICH LIEBE DICH, ICH SEHNE MICH NACH DIR.
Als ich von der Toilette zurückkomme, werfe ich einen Blick in das Abteil mit den indischen Handyenthusiasten. Es sind vier Männer und zwei Frauen, von denen eine ein kleines Kind im Arm hält. Sie liegen auf den ausgezogenen Sitzen und schlafen tief und fest.
Mittlerweile befinden wir uns südlich des Vesuv, sein Krater ist deutlich auszumachen. Meine Mutter träumt davon, einmal Pompeji und Herculaneum zu besuchen und dann ein paar Tage an der Küste bei Amalfi zu verbringen. Ich habe ihr versprochen, sie zu begleiten. Dieses Versprechen sollte ich endlich mal einlösen.
Ich weiß auch nicht, warum mir ausgerechnet jetzt einfällt, wie ich ihr damals erzählte, dass ich nach Australien auswandern wollte, und sie mir antwortete: »Fein, dann kann ich endlich mal die Kängurus sehen, das hab ich mir immer schon gewünscht.«
Moment mal. Ich war doch auf dem Sprung nach Australien. Nicht sie.
Das ist schließlich etwas anderes. Wir sind ja nicht eins.
1968 – 1970
Evas Cousin Wastl war zum Militär gegangen. Nachdem er schon Jahre in der
Weitere Kostenlose Bücher