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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Vater hat sein Leben für dich geopfert«, bekam er häufig von den Schützen zu hören, und diese Worte lösten bei ihm eine Mischung aus Sehnsucht, Widerwillen und Ratlosigkeit aus. Wie sollte er sich jemals für ein solch übertrieben großes Geschenk angemessen bedanken können? Und welche Vorteile hatte es ihm überhaupt gebracht?
    Sigi hingegen begleitete die Männer beim Abschied noch bis zur Straße hinaus. Er fand sie in ihren Trachten äußerst beeindruckend. Bald schon, noch bevor er eingeschult wurde, durfte er bei ihren Übungen dabei sein. »Dein Vater hat sein Leben für dich geopfert«, sagten sie auch zu ihm, doch im Gegensatz zu Ulli fühlte er dabei, wie sich endlich in seinem Innern diese erinnerungslose Leere füllte, die sein Vater dort hinterlassen hatte.
    Leni sah es nicht gern, dass Sigi mit den Schützen verkehrte. Aber was hätte sie dagegen unternehmen können? Auch die Schwingshackls betrachteten die Sache so wie sie. Evas Adoptiveltern empfanden Mitleid für Leni und ihre Kinder und selbst für Hermann, diese kranke Seele, der seinen einzigen Sohn verloren und seine Tochter verstoßen hatte. Aber nie und nimmer hatten sie Peter für einen Helden gehalten. Für sie gab es viele Möglichkeiten, anderen Menschen Gutes zu erweisen, und einige davon verlangten Mut und Opferbereitschaft, aber was so heroisch daran sein sollte, sich selbst und andere in die Luft zu sprengen, wollten und konnten Sepp und Maria einfach nicht verstehen.
    Etwas Neues kam auf, Open Air – ein Begriff, der ganz und gar nach Zukunft klang.
    Es war nicht einfach Musik. Es war etwas Festes, das einen packte und das man nicht mit den Ohren hörte, sondern mit den Füßen, dem Bauch, den Haaren. Die Härchen an den Armen stellten sich auf, die Knie wurden weich, und der eigene Wille erlahmte. Und dann der Rhythmus! Wo hatte man schon mal solch einen Rhythmus gehört? Der Schlagzeuger schüttelte seine lange Mähne, dass die Haarsträhnen wie Schlangen durch die Luft flogen und die Schweißtropfen spritzten, und niemand hätte es für möglich gehalten, dass das Instrument, auf dem er sein Solo hämmerte, mit den Trommeln der Musikkapelle verwandt sein könnte. Und das war es auch nicht. Es war völlig anders. Alles war völlig anders. Sogar die Burg auf der Anhöhe über dem Städtchen, wo Eva, Ulli, Ruthi und Wastl sich jetzt aufhielten, war nicht mehr das, was sie eben noch gewesen war. Noch nicht einmal die Belagerungen im Mittelalter hatten die uralten Bastionen derart in ihren Grundfesten erschüttert wie jetzt dieses Ereignis: ein Rockkonzert.
    Nie zuvor hatte es das gegeben, dass so viele Menschen auf der Wiese und unter den Lärchen vor der Burgmauer lagerten: junge Mädchen mit nackten Beinen und langen Haaren, in die Lederbänder geflochten waren, junge Männer in bunten Hemden und mit Tüchern auf dem Kopf, Pärchen, die eng umschlungen im Gras lagen und sich überall berührten und auf den Mund küssten. Und über allem und um alles herum, wie eine zähe Flüssigkeit, in der Eva, ihre Cousins, die verliebten Pärchen und die ganze Burg trieben, diese Musik wie von heiligen Teufeln. Evas Augen und Ohren, ihre Haut, konnten gar nicht alles fassen, was um sie herum geschah.
    Ruthi hingegen war traurig. Jenes Mädchen, das Eva einst wie eine geschenkte Puppe empfangen und angenommen hatte, war inzwischen fünfzehn Jahre alt, immer noch strohblond und ein wenig zu dünn, doch der Blick ihrer Augen unter den hellen Wimpern wirkte sonst so offen und freundlich, dass ihre Gesellschaft von allen geschätzt wurde. Auch von Wastl. Sehr sogar. Sie ihrerseits hatte gemerkt, dass sie seine Gesellschaft nicht nur als angenehm, sondern fast unverzichtbar empfand. Aber soeben hatte Wastl ihr eröffnet, dass er nach Ende seines Wehrdienstes bei der Weinernte im Etschtal ein wenig Geld verdienen und zur Seite legen wolle, um dann nach Marokko zu fahren.
    Marokko. Das klang nach einem sehr, sehr weit entfernten Land, vielleicht in Amerika, dachte Eva. Ja, so musste es sein. Bei Ulli zu Hause hatte sie in dem neuen Fernseher vor Kurzem erst von einer Stadt dieses Namens reden hören: Marokko-City. Wie kam man da wohl hin? Mit dem gleichen Bus, der ihre Mutter immer fortbrachte? Vielleicht lag Marokko in derselben Richtung wie die Küche, in der Gerda arbeitete, nur ein wenig dahinter noch.
    Nein, er fahre nicht mit dem Bus, erklärte ihr Wastl. Nach Marokko werde er trampen. Er fragte Ruthi nicht, ob sie mit ihm kommen wolle. Sie

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