Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
warf sich das auch vor, während er auf dem Sofa bei mir zu Hause lag, wohin er sich geflüchtet hatte.
»Ich hätte ihn niemals hierher bringen dürfen.«
Ich musste mich über ihn beugen, um diese Worte zu verstehen. Obwohl ich ihn mit einem Federbett zugedeckt hatte, hörte er nicht auf zu zittern.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich.
Manchmal weiß man schon, während einem die Worte über die Lippen kommen, dass sie nichts bewirken werden. Manchmal erkennt man es auch nie. Bei mir dauerte es genau zehn Tage.
Diesen Gedanken werde ich nicht mehr los: Als ich aufhörte, offen mit Ulli zu reden, habe auch ich damit begonnen, ihn umzubringen.
In Belvedere Marittimo baumelt vor einem Lebensmittelladen ein Riesenmozzarella aus Pappmaché. Er erinnert mich an den erhängten Stoffbären der jungen Amerikanerin, die inzwischen ausgestiegen ist. Nun ist es wieder die indische Frau im Neben abteil, die laut in ihr Handy spricht, in Hindi, mit gerollten Rs und Ds, so weich wie Chapatis. Diese Inder müssen ein Vermögen ver telefonieren.
»Hallo, hallo!«, ruft sie hektisch und bricht dann in lautes Lachen aus. Eigentlich dringen aus diesem Abteil nur Gute-Laune-Klänge zu uns: das Gluckern des Kleinkinds, fröhliches Stimmengewirr, friedliches Schnarchen. Plötzlich schwenkt die Frau in ein perfektes Italienisch über:
»Wo bist du? In einer Stunde sind wir da.«
Sie lacht noch einmal und beendet das Gespräch. Kurz darauf wieder ein Klingelton. Dieses Mal ist es mein Handy. Ich nehme es aus der Handtasche und schaue aufs Display, während es weiterklingelt: CARLO. Offenbar hat er es irgendwie geschafft, sich für ein paar Minuten vom Osterfestessen im Familienkreis abzusetzen. Ich lasse es klingeln. Dabei spüre ich den Blick der Frau aus Messina, die mich aufmerksam beobachtet und sich sicher fragt, wem ich da nicht antworten will. Und ich glaube, dass sie sogar richtig rät: einem Mann. Endlich verstummt das Handy wieder, und ich stecke es in die Tasche zurück.
In Cetaro passiert unser Zug eine Straßenkreuzung, und man kann die blauen Schilder der Staatsstraße lesen. Eines zeigt in die Richtung, aus der wir kommen, und gibt an, dass Salerno schon zweihundertzwanzig Kilometer hinter uns liegt. Andere weisen den Weg ins Landesinnere, zu Orten, deren Namen an Schutzburgen denken lassen, an Menschenscharen auf der Flucht, an Überfälle von Seeräuberbanden: Castrovillari, Spezzano Albanese, Saracena.
Das Schild Richtung Süden ist hingegen wie ein Versprechen:
REGGIO CALABRIA 254.
1971 – 1972
In der Nebensaison, wenn einige Hotelzimmer leer blieben, bat Gerda hin und wieder Frau Mayer, ihr ein paar Tage freizugeben, damit sie Eva sehen konnte, die auf ihre Besuche wartete wie ein Frommer auf ein Wunder: im festen Glauben, aber ohne Gewissheit. Sie wartete auf dem Kirchplatz und beobachtete, wie der blaue Bus aus Bozen vom Tal herauf die Kehren nahm, bis er die kleine Kirche erreichte. Ulli war dann nicht bei ihr. Die Begrüßung von Eva und ihrer Mutter ging ihn nichts an, wie er längst wusste; es war die einzige Situation, in der er sich von ihr fernhielt. Nun baute sich Eva an der Bustür auf und zwang die Passagiere, wie an einer winzigen Ehrenwache an ihr vorbeizudefilieren, musterte jeden Einzelnen und wandte sich dann verächtlich ab, weil er nicht ihre Mutter war. Wenn Gerda dann endlich wie eine Vision auf der obersten Stufe in der Tür auf tauchte, explodierte in Evas Brust ein großes Glücksgefühl, durch setzt von Beklemmung: Worauf jetzt zu warten blieb, war die nächste, sicher bevorstehende Trennung.
An jenem Tag aber waren schon alle Fahrgäste ausgestiegen, als sie immer noch vor dem von der Anstrengung leicht schnaufenden Bus stand. Gerda war nicht unter ihnen gewesen. Eva blickte zum Busfahrer auf, und der zuckte mit den Schultern, die breit geworden waren in all den Jahren, die er schon seinen Bus durch die engen Kurven dieser Strecke lenkte. Das Mädchen tat ihm ehrlich leid, aber er musste sich nun mal an seinen Fahrplan halten. Er drückte auf einen Knopf, und die Bustür schloss sich. Im Glas der Türflügel tauchte Evas Spiegelbild auf, dann zog die blaue Seitenfläche an ihr vorbei, und kurz darauf lag nur noch, vor dem Hintergrund der Gletscher in der Ferne, der Kirchplatz vor ihr. Auf dem gerade ein kaffeebrauner Fiat 130 anhielt.
Äußerlich schien Eva noch dasselbe blonde Mädchen wie eine Minute zuvor zu sein, doch tatsächlich war das Wesen, das dort verloren
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