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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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klangvollerem Name: Scilla. Und dann schließlich der rot-weiße Leuchtturm von Villa San Giovanni, der verkündet: Der Kontinent endet hier.

1973
    Odontometer, Pinzette, Lupe. Silvius Magnago saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch und studierte die Zähnung einer Briefmarke.
    Er war nie ein großer Reisender gewesen. Der entfernteste Ort, an den er jemals gelangte, war die endlose Ebene von Nikopol in der Ukraine, wo er sein linkes Bein zurückgelassen hatte. Nach Wien war er häufig gereist, ebenso in verschiedene europäische Hauptstädte. Aber vor allem war er zwischen Bozen und Rom hin und her gependelt und hatte auf diese Weise mehr Kilometer zurückgelegt als bei einer Weltumrundung. Doch zu reisen, um etwas von der Welt zu sehen, war nie seine Sache gewesen. Seine Art, die Welt zu erkunden, bestand darin, Briefmarken aus aller Herren Länder zu sammeln. Und er empfand es als Wohltat, nun nach so vielen Jahren endlich etwas Zeit dafür zu finden.
    Mit der Verabschiedung des sogenannten Pakets hatten die Attentate ein Ende genommen, es gab keine Sprengsätze und keine Todesopfer mehr. Drei Jahre später, vor wenigen Monaten also, waren die Gesetze in Kraft getreten. Und nun galt es, die Durchführungsbestimmungen der einzelnen Maßnahmen zu beschließen. Bei den Steuern, im Schulwesen, im Verkehrswesen, beim Wohnungsbau: In jedem Bereich musste die Verwaltungsautonomie praktisch umgesetzt werden. Eine langwierige, bürokratische Arbeit. Doch die Suche nach konkreten, detaillierten Lösungen war immer schon eine von Magnagos Stärken gewesen, und diese gewaltige Aufgabe, der er sich nun in Zusammenarbeit mit Kommissionen unter der Leitung von ihm geschätzter Kollegen wie des Christdemokraten Berloffa verschrieben hatte, schreckte ihn nicht. Worauf es hier ankam, waren Detailgenauigkeit, Akribie und Sachverstand – Eigenschaften, die ihm als Briefmarkensammler nicht fremd waren.
    Auch die Stimmung in seiner Heimat war gut. Der Tourismus brachte Südtirol einen Wohlstand, den sich nur zehn Jahre zuvor niemand auch nur entfernt hätte vorstellen können. Bei den letzten Wahlen war seine Partei für die Bewältigung ihrer historischen Aufgabe von der Wählerschaft mit einer Zweidrittel-mehrheit belohnt worden. Und vor allem genoss er es, nachts nicht mehr von Anrufen aus dem Schlaf gerissen zu werden, in denen man ihn darüber informierte, dass ein Soldat in Stücke gesprengt oder ein junger Bursche bei einer Straßensperre von der Polizei erschossen worden war.
    Je älter er wurde, desto häufiger hielt sein unsichtbares Bein, das in Nikopol zurückgeblieben war, Zwiesprache mit dem restlichen Körper in der Geheimsprache des Schmerzes, die er mit niemandem teilen konnte, noch nicht einmal mit seiner Frau Sofia. Die dramatischen, aufregenden Jahre mit dem langen Weg von der Massenkundgebung vor der Burgruine Sigmundskron bis zu den Vereinbarungen mit der Regierung in Rom waren zu Ende, sodass er sich nun endlich, hin und wieder wenigstens, seinen geliebten Briefmarken widmen konnte. Dennoch war er beunruhigt, wenn er die politische Entwicklung in dem Land beobachtete, dem anzugehören seine Heimat mit der Verabschie dung des Pakets zugestimmt hatte. Zu vertraut kam ihm vor, was da geschah, wie eine Melodie, die er zu oft gehört hatte. Doch war sie damals nur von wenigen und in einem abgelegenen Landstrich wie Südtirol gepfiffen worden, wurde sie nun von einem kompletten Orchester in ganz Italien gespielt.
    Bomben. Blutbäder. Anschläge. Terroristen. Straßensperren. Umsturzpläne. Vertuschungen. Gerüchte zu Verwicklungen von Geheimdienstmitarbeitern in obskure Machenschaften. Und vor allem Tote. Zu viele Tote. Auf den Straßen, in Banken, auf Polizei revieren, wo Verhöre tödlich endeten, auf überfüllten Plätzen. Es war alles andere als eine heitere Melodie, die da durchs Land zog.
    Vor einiger Zeit hatte er mit seiner Frau im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Tornados und Taifune gesehen. Dabei war ihm der Gedanke gekommen, dass Südtirol Gegenden inmitten des weiten Ozeans ähnelte, aus deren Schoß die Hurrikane kamen. Winzig kleine Tiefdruckgebiete am Rande des Weltgeschehens, die kaum auf den Radarschirmen der Beobachtungsstationen auftauchten, in denen aber die Luft wirbelte, das Wasser schäumte und die Wolken kondensierten, bis sich das, was als kleine Windhose entstand, zu einem Hurrikan ausgewachsen hatte, der über die Küsten der Kontinente hinwegfegte.
    Ja, so war es. Die

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