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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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unbekannt gewesen: Homosexualität . Ein klinischer, fast akademischer Begriff, der seltsam klang aus dem Mund dieses einfachen Mannes, der seit Jahrzehnten das passende Brevier auf dem Ambo zurechtlegte, Betschwestern, die zur Rosenkranz-andacht kamen, mit Weihrauch besprenkelte oder braven Kindern, die sich im Katechismusunterricht hervortaten, ungeweihte Hostien schenkte. Wirklich seltsam.
    »Es war die Zeit des Faschismus, und auch im Italienischen war dieses Wort unbekannt.«
    Lukas erzählte weiter, wie ihm als junger Bursche der Schweiß ausbrach, wenn er mit bestimmten Jungen in Berührung kam, und dass ihm das bei Mädchen nie passiert sei und dass er nachts aufwühlende Träume hatte, die er dem Pfarrer beichtete, der ihm aufgab:
    »Bete drei Rosenkränze und vier Vaterunser, dann legt sich das wieder.«
    In den vierzig Jahren seiner Ehe habe er mit seiner Frau nur zusammen sein können, wenn er die Augen schloss und sich vorstellte, dass sie ein Mann sei. Anna habe ihm nie Vorwürfe gemacht, aber sicher gespürt, dass bei ihm etwas anders war. Natürlich habe auch sie dieses Wort nicht gekannt, und er selbst sei überzeugt gewesen, der einzige Mensch auf Erden mit solch verdrehten Gefühlen zu sein.
    Wie der einsamste Mensch der Welt sei er sich vorgekommen.
    Erst als sich Ulli ganz offen zu seiner Veranlagung bekannte, habe er begriffen, was er war: ein Homosexueller. Und sich auch nicht mehr allein gefühlt, denn immerhin seien sie ja nun zu zweit gewesen.
    Er sei ein alter Mann, erklärte er, sein irdisches Dasein fast beendet, seine liebe Frau Anna schon gegangen. Und deshalb habe er nun beschlossen, dazu beizutragen, dass niemand mehr so wie er sein Leben in Einsamkeit, Unwissenheit und Verwirrung zubringen müsse. Es sei wichtig, sich nicht zu verstecken. Er jedenfalls sage es nun ganz offen: Ohne Ulli hätte er nie herausgefunden, wer er wirklich sei. Und auch wenn Ulli jetzt den Mut verloren und auf diese Weise seinem Leben ein Ende gesetzt habe, zweifle er, Lukas, nicht daran, dass ihn der Herrgott, mit dem er ja in enger Verbindung stehe, weil er ihm seit Ewigkeiten schon das Haus sauber halte, zu sich in den Himmel nehmen werde.
    Um das offene Grab herum herrschte Stille. Niemand sagte ein Wort. Auch Lukas schwieg jetzt, er hatte alles ausgesprochen, was ihm auf der Seele gelegen hatte. Nun warf er eine Schaufel Erde auf den Sarg aus hellem Holz, der darauf wartete, ins Grab hinabgelassen zu werden. Obendrauf lag auch die Zielscheibe mit der Aufschrift »Ulli«, die sein Vater anlässlich seiner Geburt, wie eine düstere Prophezeiung, mit Schrot durchsiebt hatte. Mit kurzen, unsicheren Schritten, die wahrscheinlich nicht nur von seiner Arthritis herrührten, ging der Küster davon, während der Wind durch seine grauen Haare fuhr. Als wolle er fragen: »Können wir jetzt endlich?«, ließ der Totengräber den Blick über die Trauergemeinde wandern. Er erhielt keine Antwort, und so machte er sich an die Arbeit. Nach und nach entfernten sich alle. Nur Leni, Sigi und ich blieben noch.
    Die Gletscher jenseits der Friedhofsmauer schienen so nahe wie nie zuvor.
    Sigi hatte sich nicht getraut, die rohen Worte, die Ulli töteten, auch dem alten Küster an den Kopf zu schleudern. Stattdessen stand er mit gesenktem Kopf da und ließ seine breiten Jägerschultern hängen, die offensichtlich nicht in der Lage waren, diese Last zu tragen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber es war so: In diesem Moment tat Ullis Bruder mir leid.
    Wäre Vito doch da gewesen, um mich zu halten, während ich mich an ihn lehnte, um mir zu sagen: Da siehst du, dass Ulli nicht umsonst gelebt hat. Aber Vito war schon lange fort und würde noch viele Jahre verschwunden sein. Doch dies war der Tag, da mir mehr als je zuvor oder je danach seine Abwesenheit völlig unerträglich war.
    Endlich, ganz plötzlich, haben wir mit dem letzten Tunnel auch die letzte Anhöhe an der Stiefelspitze hinter uns gelassen und sind wieder am Meer. Der Zug fährt in kürzester Entfernung am Wasser entlang. Auch wenn steinerne Wellenbrecher das Gleisbett schützen, werden bei Flut mit Sicherheit Spritzer gegen die Zugfenster klatschen.
    Der winzige Bahnhof von Favazzina steht eingezwängt zwischen Häusern und ist heruntergekommen, dreckig und mit Graffiti beschmiert, darunter auch in riesigen Buchstaben: WELCOME TO FAVAZZINA HILL. Gleich darauf durchfahren wir einen weiteren, ebenso kleinen, abgetakelten Bahnhof mit einem aber sehr viel

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