Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Donnerschläge, Gewitter und Stürme, die seine Heimat in den Jahren zwischen 1957 und 1969 erschüttert hatten, waren aus diesem Blickwinkel betrachtet nur das Vorgeplänkel für etwas viel Größeres und Weitreichenderes gewesen. Für etwas, dessen Generalprobe – Magnago erschrak selbst, als er diesen Gedanken nur dachte – hier in Südtirol stattgefunden hatte, für etwas, was bei ihnen in Südtirol erlernt worden war.
Magnago war vielleicht der einzige Politiker in Italien, der sozusagen einen Doppelstatus besaß. Die Terroristen und radikalsten Splittergruppen sahen in ihm einen Politkarrieristen, der seine Ideale verraten und sich der Staatsräson unterworfen hatte, und in der italienischen Innenpolitik warf man ihm zu großes Verständnis für die Terroristen vor. So war er eigentlich in einer idealen Lage, um die Dinge von beiden Seiten zu betrachten. Durch die Ereignisse in Südtirol war er, was Attentate anging, mittlerweile so feinfühlig wie ein Wünschelrutengänger. Überdeutlich erkannte er, dass diese Anschläge gerade denen gelegen kamen, gegen die sie eigentlich gerichtet waren. Und viele Vor fälle der letzten zwölf Jahre waren nur zu verstehen, wenn man davon ausging, dass irgendwer, irgendwelche irregeleiteten Vertreter oder Gruppierungen des politischen Lebens in Italien an einem Eigentor interessiert waren, um die harte Reaktion des Staates zu rechtfertigen. Dies waren Zusammenhänge, die Mag nago natürlich niemals würde beweisen können. Und ebenso wenig hätte er solche Vermutungen während der sensiblen Verhandlungen, die er über Jahre mit verschiedenen Regierungen in Rom führte, seinen italienischen Gesprächspartnern gegenüber anspre chen können. Das hätte man sich wohl entschieden verbeten. Nur ein einziges Mal, zu Ende einer wie immer freundschaftlichen Unterredung mit Aldo Moro, hatte er diesbezüglich einen Satz fallen lassen, nur um zu sehen, welche Reaktion er hervorrufen würde, darauf gefasst, ihn sogleich wieder zurückzunehmen.
»Man könnte fast glauben«, hatte Magnago zu Moro gesagt, »manche Leute seien daran interessiert, Italien keine echte Demokratie werden zu lassen.«
Der Christdemokrat, dessen Stimme normalerweise schon so tief und heiser klang, dass man ihn nur schwer verstand, hatte geschwiegen, seinen Blick aber, der verständnisvoll war, eindringlich, erschöpft, auf Magnago gerichtet und dann die Augen zu einer kaum wahrnehmbaren, aber unmissverständlichen Geste der Zustimmung halb geschlossen. Seitdem wusste Magnago, dass er recht hatte: Es gab einen gezielten Plan, die italienische Demokratie zu destabilisieren. Und in bestimmten Kreisen war dies bekannt. Doch ebenso wenig wie die körperlichen Schmerzen, mit denen er seit 1943 lebte, konnte Magnago diese Gewissheit mit jemandem teilen – sein einziger Beweis war Moros Niederschlagen der Lider.
Aber es lohnte sich nicht, seine Zeit mit Dingen zu vergeuden, die man nicht einmal besprechen, geschweige denn ändern konnte. Mit der konkreten Umsetzung der Südtiroler Autonomie lagen genug dringende, schwer zu lösende Probleme auf dem Tisch. Seit sich das Verhältnis zum italienischen Staat zu normalisieren begonnen hatte, sah Magnago in erster Linie ein anderes Phänomen, das auf lange Sicht die Identität seiner Heimat bedrohte. Eines, das destabilisierender, umwälzender und gefährlicher als alles andere war: Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen.
Gewiss, auch er selbst war aus einer Mischehe hervorgegangen. Aber seine Eltern hatten geheiratet, als ganz Tirol noch ungeteilt zu Österreich gehörte. Zu einer Zeit, als es noch nicht geboten war, die Traditionen der Heimat vor einer Assimilierung zu schützen.
Diese Zeiten waren lange vorbei, und nun war es von enormer Wichtigkeit, die Volksgruppen in Südtirol genau zu erfassen, zu zählen und gegeneinander abzugrenzen. Vor allem für den Bereich von Schulen sowie Kultur- und Sprachinstituten, denn nur durch eine deutliche Abgrenzung von italienischen Einflüssen waren die Kultur und die Sprache Südtirols wirksam zu schützen. Eine klare Grenzziehung zwischen den Volksgruppen – nur auf diese Weise war nach all den Tumulten der Friede im Land zu erhalten.
Es war wie beim Briefmarkensammeln. Die berühmte Sachsen-Dreier oder die Schwarze Einser* hatten ihren Platz im Album historischer Briefmarken und nicht in dem für ›Tiere aus aller Welt‹, ›Unterkategorie Vögel‹. Ordnen, Katalogisieren: Südtirol brauchte die
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