Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
auch nicht wie eine Zeitung oder ein Handy versehentlich auf einer Parkbank liegen geblieben. Nein, ich hatte Ulli nicht verloren. Ulli hatte sich umgebracht. Und viele dieser Menschen, die zu seiner Beerdigung kamen, waren mit ihrem Verhalten zu seinen Lebzeiten daran schuld. Wie eine Welle stieg die Wut in mir auf und verebbte wieder, und danach fühlte ich mich nur noch furchtbar erschöpft. In diesem Augenblick vermisste ich Vito schrecklich.
Ich sehnte mich danach, den Kopf wieder an seine Schulter zu lehnen oder genauer, an seinen Bauch, denn auch wenn Vito kein ausgesprochen großer Mann war – als ich ihn zum letzten Mal sah, war ich noch ein Kind – sein Kind. So stellte ich ihn mir in jenem Moment wieder vor, wie er mit seinen starken Armen von hinten meinen Oberkörper umfasste, während ich nur ein wenig den Hals drehte, mit dem Hinterkopf sein Brustbein streifte und mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn lehnte, in der Gewissheit, dass er mich halten würde. Vor Ullis Grab stehend, packte mich eine derartige Sehnsucht nach Vito, dass sie einen Moment lang sogar die Trauer um meinen toten Cousin verdrängte, meinen Spielgefährten und Vertrauten, der mir mehr als ein Bruder war, ein Freund, vielleicht meine einzige Liebe.
So stand ich da, als Lukas, der alte Küster, zu einer ungewöhnlichen Trauerrede anhob. Aber nur aus Vitos Mund hätte ich die Einsicht akzeptiert, dass Ulli nicht umsonst gestorben ist. Doch Vito fehlte bei der Beerdigung.
Es wird Zeit, ich muss zahlen und aufpassen, dass ich den Zug aus Innsbruck erwische, der mich nach Bozen bringen wird.
196 1 – 1963
Als beim Oberkommando der italienischen Streitkräfte die Nachricht einging, dass Gerda eine Stelle in einem großen Meraner Hotel antreten würde, beschloss man, unverzüglich ein Kontin gent von rund tausend Soldaten nach Südtirol zu entsenden. Das Militär requirierte Gerdas Hotel, ebenso wie die beiden anderen großen Häuser des traditionsreichen Kurortes und quartierte in allen Zimmern Soldaten ein. Als die neue, blutjunge »Matratze« im Hotel eintraf, um dort die Arbeit aufzunehmen, warteten bereits über hundert italienische Gebirgsjäger auf sie. Durch den Dienstboteneingang sahen die Soldaten sie eintreten, diese voll erblühte Sechzehnjährige im Sonntagsdirndl, deren Finger den Griff ihres Koffers so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Da strahlten die Männer und empfanden Dankbarkeit gegenüber ihren Generälen: Nun endlich begriffen sie auch, wieso man sie hierher beordert hatte, ins Land dieser crucchi , die man nicht verstand, es sei denn, sie fluchten.
Nein, so war es nicht.
Der Grund für die Entsendung all dieser Soldaten war leider nicht Gerda. Es ging um Hochspannungsmasten. Dreiundvierzig, die alle gleichzeitig in die Luft flogen in der »Feuernacht«, eine spektakuläre Aktion, perfekt organisiert, gewissenhaft, geduldig. Mit einem Wort: deutsch.
Zu den Anschlägen bekannte sich der im Untergrund operierende Befreiungsausschuss Südtirol (BAS). Ihr Ziel, so erklärten die Mitglieder in einem Flugblatt, sei nicht die administrative Autonomie, wie sie Silvius Magnago, der schlaksige, charismatische Redner in den Ruinen von Sigmundskron, und seine Südtiroler Volkspartei anstrebten. Diesen, wie sie sagten, von Politkarrieristen ausgehandelten Kompromiss lehnten sie ab. Stattdessen erklärten sie, dass allein das »Volk« bestimmen könne, zu wem es gehören wolle: zum italienischen Staat, der seit vierzig Jahren Südtirol wie eine Kolonie besetzt halte, oder zu Österreich, jener Mutter, der man sie durch eine historische Schandtat entrissen habe. Sie verlangten ein Referendum, um in freier Selbstbestimmung über ihr Schicksal zu entscheiden, in der Überzeugung, dass es ein klares Votum für eine Rückkehr zum Mutterland Österreich geben würde. Fünfzehn Jahre waren seit dem Untergang der faschistischen Herrschaft vergangen, fünfzehn Jahre, in denen das christdemokratische Italien gezaudert und das Problem verdrängt hatte, vielleicht in der Hoffnung, es würde sich irgendwann einmal von selbst erledigen. Da hatten die Attentäter zugeschlagen.
Für ihre spektakulärste Aktion wählten sie jene Juninacht, in der die Südtiroler traditionell überall auf den Bergen Feuer entzünden, um an den Mut und den Zusammenhalt zu erinnern, mit dem das Volk einst – angeführt von Andreas Hofer, seitdem ein Nationalheld – den Vormarsch der napoleonischen Truppen aufgehalten hat.
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