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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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durchlitten, so wie sein Vater auch und sein Großvater und alle Vorfahren gar zu vieler Generationen. Außerdem war ihm alles lieber als die Einsamkeit der Höfe seines Tals, des Val Martello. Da Herr Neumann nun Gerda zur Hilfsköchin befördert hatte, stand dieser Bursche mit dem extrem langen Gesicht und den zu großen Ohren auf der alleruntersten Stufe der Küchenhierarchie. Er war es, der noch die gusseiserne Platte unter dem Grillrost zu reinigen hatte, wenn die anderen schon schliefen.
    Bat Gerda ihn nach Feierabend wieder mal, ihr die Schürze aufzubinden, konnte er seine aufgerissenen und mit Brandblasen übersäten Finger kaum ruhig halten, und später dann, auf seiner metallenen Pritsche, hielt ihn die Erinnerung daran, wie nahe er der Vertiefung oberhalb ihres Hinterteils gewesen war, noch stundenlang wach.
    »Die feine Küche wird nicht in der Küche gemacht, sondern auf dem Markt und in der Speisekammer«, pflegte Herr Neumann zu sagen. Die Kunst, Lebensmittel auszuwählen, zu lagern und haltbar zu machen, war die Grundlage für alles Weitere. Unter seiner Anleitung lernte Gerda, immer das Beste zu finden und zu verarbeiten.
    Fisch wurde freitagmorgens bei Tagesanbruch in mit Eis ge füllten Holzkisten aus Chioggia an der Lagune von Venedig geliefert: triglie, code di rospo, branzini, vongole, fasolari, wie Herr Neumann die Meerbarben, Anglerfische, Seebarsche oder Muscheln nannte. Auch bei Obst und Gemüse blieb er bei den italienischen Namen, vor allem bei den Salaten: radicchio, lattuga, valeriana, rucola, portaluca, crescione statt Rauke, Kopfsalat, Kresse, Portulak und so weiter. Beim Fleisch hingegen sprach er deutsch, da hieß es: Rinderfilet, Lammrippen, Eisbein. Und auch bei den Kuchen, bei Mohnstrudel und Rollade , bei Linzertorte und Spitzbuben. Diese kulinarische Zweisprachigkeit hatte sich eingespielt, wurde vom gesamten Personal übernommen und von niemandem infrage gestellt. Die einzige Ausnahme von der Regel, fast eine unfreiwillige Hommage an italienische und deutsche Vorurteile, waren Kartoffeln, die, obwohl ein Gemüse oder zumindest ein Knollengewächs, niemand italienisch patate nannte, die dann aber, wenn sie frittiert wurden, die Südtiroler Volksgruppenspannungen überwanden und als Pommes frites internationalen Status erlangten.
    Es gab zwei große Kühlkammern, eine für Milchprodukte und die andere fürs Fleisch. Letztere war tatsächlich so groß wie ein Wohnzimmer, allerdings nicht mit Möbeln, sondern mit Stangen und Haken eingerichtet, an denen Rinderviertel hingen, halbe Kälber und ganze Hühner und Truthähne. Draußen vor der massiven Holztür war ein Kleiderhaken angebracht, an dem zwei dicke Mäntel hingen. Als Herr Neumann Gerda zum ersten Mal zur Gefrierkammer mitnahm, griff er sich einen davon und schlüpfte hinein. Sie blickte ihn fragend an.
    »Da drinnen ist es kälter als im Januar auf dem Ortler. Warst du da schon mal?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich auch nicht. Aber du willst doch nicht so jung sterben. Also zieh dir den Mantel über, bevor du da so verschwitzt hineingehst.«
    Als die Sommersaison beendet war, kehrte Gerda für einige Zeit nach Hause zurück. Niemand stellte ihr Fragen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter wollten wissen, worin ihre Arbeit bestand, ob sie genug aß und schlief oder wie sie sich mit dem übrigen Personal verstand.
    War Hermann nicht mit seinem Laster unterwegs, um Holz zu liefern, verbrachte er seine Zeit am Stammtisch im Wirtshaus und ließ sich dort auf den Arm nehmen von den Gästen, die der Wein gesprächig gemacht hatte, während er nur noch tiefer in Schweigsamkeit versank. Johanna hatte es nicht nur aufgegeben, mit ihrem Mann zu reden, sondern auch, ihm ins Gesicht zu schauen. Als sie es die letzten Male versucht hatte, waren seine Augen so kalt geworden, als habe sie sich eine unverzeihliche Beleidigung erlaubt, und ihr war klar geworden: Als Beleidigung betrachtete er die Zuneigung, die sie sich trotz allem noch für diesen Mann zu empfinden herausnahm, mit dem sie seit dreißig Jahren das Ehebett teilte.
    Leni, Peters Frau, hatte ein Kind zur Welt gebracht. An der verschimmelten Wand des feuchten Hauses in Schanghai hing die hölzerne Zielscheibe, auf die sein Name gemalt war, Ulrich , durchsiebt von den Schüssen, die Peter und seine Schützenbrüder zur Feier der Taufe darauf abgefeuert hatten. Als sei für ihn die Geburt seines ältesten Sohnes etwas Ähnliches wie eine erfolgreiche Jagd gewesen, hatte er die

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