Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
(nicht schwanger zu werden, darauf habe ich mein ganzes Leben lang immer streng geachtet), arbeitete bereits seit einigen Jahren und hatte etwas Geld zur Seite gelegt. Ich dachte daran, nach Australien zu gehen und mir dort eine Stelle zu suchen. Fort, fort aus Südtirol/Alto Adige mit seiner zwanghaften Selbstbespiegelung und hinein in ein neues Leben, das ein völliger Gegensatz dazu sein sollte!
Als ich meiner Mutter von diesen Plänen erzählte, meinte sie nur:
»Ich wollte schon immer mal die Kängurus sehen. Jetzt werde ich endlich Gelegenheit dazu haben.« Mehr war dazu nicht aus ihr herauszubekommen.
Nach Australien gezogen bin ich dann doch nicht. Ich bin eben, trotz allem, ein »Dableiber«.
Ausgestreckt auf der Liegewagenpritsche, gewiegt vom fahrenden Zug, finde ich keinen Schlaf. Stattdessen nur Traumfetzen. Die Poebene, die draußen vor dem Fenster vorbeischießt, dringt zu mir ein – durch die Waggonwand, die Zudecke mit dem Em blem der italienischen Eisenbahn, meine Haut – und ergreift Be sitz von mir, lässt meine Gedanken so flach werden wie die Landschaft draußen. Das darf doch nicht wahr sein: Jedes Mal, wenn mein Bewusstsein kurz davor ist, sich ganz zu verlieren und sich dem Schlaf zu ergeben, bricht das Rattern eines Zuges ein, der uns in voller Fahrt entgegenbraust. Ein mechanisches, geradliniges, nachtaktives Ich, das mich aus dem Halbschlaf hochfahren lässt.
Nachdem ich wieder einmal auf diese Weise aufgeschreckt worden bin, richte ich mich, auf die Ellbogen gestützt, ein wenig auf und blicke hinaus. Wir halten an einem kleinen verlassenen Bahnhof. Das blaue Schild mit den weißen Buchstaben verrät: POGGIO RUSCO, ein Name, der nach bäuerlichem Leben klingt, nach Traktoren, Salamis, Wurstwaren nach Hausmacherart ohne Konservierungsmittel. Fast eine halbe Stunde bleiben wir dort stehen. Keine Ahnung, wieso. Der orangefarbene Lichtkegel der hohen Laternen wirkt gallertartig, so gesättigt ist die Luft der Poebene von den Säften der Scholle.
Ich versuche ein Fenster zu öffnen, aber es ist verriegelt. Wenn ich jetzt den Liegewagenschaffner riefe, von einem Abteil zum anderen, auf diese intime, fast ehelich vertraute Weise, so würde er mit vom Schlaf geschwollenen Augen herbeieilen, er würde in dem Versuch, seine von meinem unverhofften nächtlichen Anliegen erzeugte Erregung zu überspielen, mit einem verstellbaren Schraubenschlüssel die Verriegelung lösen, mich dabei beobachten, wie ich diese schwere, nach Dünger und frisch gepflügten Feldern riechende Feuchtigkeit tief einatme, und mich fragen: »Warum schlaft Ihr nicht?« Und ich müsste ihm erklären, dass ich generell unter Schlaflosigkeit leide, aber besonders heute, da ich im Zug ganz Italien der Länge nach durchquere, um an Vitos Krankenbett zu eilen.
Vito. Warum hat er mich angerufen und nicht meine Mutter, seine verlorene Liebe, während ich nur ein kleines Mädchen war, als er mich das letzte Mal sah.
»Ich habe immer an dich gedacht«, hat er mit dieser angestrengten Stimme am Telefon gesagt. Was meint er mit »immer«? Unaufhörlich oder immer mal wieder?
Ich strecke mich wieder auf der Liege aus, und als sei dies das geheime Signal, auf das er nur gewartet hat, setzt sich der Zug in Bewegung.
1963
Binnen einer knappen Stunde verlor Gerda Vater und Mutter.
Nach mehr als drei Monaten Abwesenheit war sie mit ihrem Bauch, der sich bereits wölbte, nach Hause gekommen. Als sie ihrer Mutter von der Schwangerschaft erzählte, verzerrte sich Johannas Gesicht wie im Krampf, und sie führte eine Hand zur Brust. Über ihre blau angelaufenen Lippen schoss ein Schwall farbloses Erbrochenes und spritzte auf Gerdas Schuhe. Dann fiel sie vom Stuhl.
Als Hermann nach Hause kam, sah er seine Frau am Boden liegen, ihr Körper schon starr und leblos wie eine Sache, und über sie gebeugt Gerda, deren Bauch von Leben strotzend pulsierte. Einen Moment lang stand er da, die Beine ein wenig gespreizt, reglos, schweigend. Dann geschah es: Mit einer eigenartigen Bravour, als habe er sein ganzes Leben lang genau diesen Ablauf geübt, hob Hermann Gerdas Koffer auf, der vor der Stubentür stand, und schleuderte ihn mit einem eleganten Schwung durch die noch offen stehende Haustür. Der Koffer beschrieb einen hohen Bogen und knallte gegen den Laternenpfahl vor dem Eingang, öffnete sich, und flatternd, wie ein Schwarm bunter Zugvögel, flogen Gerdas Kleider heraus. Stumm beobachteten Hermann und seine Tochter ihren Ozeanflug. Der
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