Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
vom mittelalterlichen Zentrum des Städtchens hinaufführt, erreicht man ein weites Hochplateau, auf dem Mais und Kartoffeln angebaut werden. Inmitten der Felder steht dort eine kleine Kapelle. Von hier aus betrachtet, treten die Hänge unseres Tales auseinander, der Himmel weitet sich. Die Bank vor der Schmalseite der kleinen Kirche ist ein beliebter Platz, wo die Menschen den Sonnenuntergang und den Blick auf die Gletscher genießen.
Als ich noch klein war, spazierte auch meine Mutter, wenn sie mich besuchte, mit mir hinauf zu dieser Bank. Ich wagte es nicht, ihr zu sagen, dass ich die kostbare Zeit mit ihr lieber anders verbracht hätte, etwa bei dem Weiher jenseits der Felder, wo wir die gefräßig schnappenden Gänse mit trockenen Brotstückchen gefüttert hätten, oder zwischen den Hecken längs des Pfades, um dort Himbeeren zu pflücken, massenweise Himbeeren, bis Hände und Gesicht rot beschmiert gewesen wären, genug, um auch noch ein volles Glas mit nach Hause zu nehmen. Nein, ich verlor kein Wort über solche Wünsche, sondern stapfte brav, mich an ihrer Hand festhaltend, auf meinen kurzen Beinen hinter ihr her. Manchmal spürte ich, wie zerstreut sie meine Hand hielt, und wusste, dass sie in Gedanken nicht bei mir war – aber immerhin spürte ich sie, diese Hand meiner Mutter, die meine Finger umschloss.
Erst vor einigen Monaten, nach der Rückkehr von einem Wochenende in Paris, ist mir richtig klar geworden, wohin sie mich da immer geführt hat. Unzählige Male habe ich, auch als erwachsene Frau, auf dieser Bank gesessen und den Blick schweifen lassen, habe die Kapelle betreten und mir das Fresko angeschaut, das die kleine Apsis ziert. Dort sieht man Maria, die, den Blick ins Leere gerichtet, mit dem Fuß ausholt und im Begriff ist, ein Hündchen zu treten, das sich auf die Hinterbeine gestellt hat, um sie freudig zu begrüßen. Das Schild, das der Fremdenverkehrsverein schon vor ein paar Jahren vor der Kapelle aufstellen ließ, beachtete ich nie. Aus irgendeinem Grund aber las ich es an jenem Tag. Und da wurde mir klar, dass meine Mutter sie schon immer gekannt haben musste, die Geschichte dieser Kapelle, so wie sie seit Kindertagen auch diese andere Geschichte kannte, von der bärtigen Heiligen, die in der Kirche bei den Höfen, wo ich aufgewachsen bin, dargestellt ist.
Errichtet wurde die Kapelle von einem Adligen aus der Ge gend, der als junger Mann ein ausschweifendes Leben führte. Nach dem er geheiratet und zu einem ehrbaren Leben zurückgefunden hatte, erhielt er eine nachträgliche Bestrafung durch die Geburt eines Sohnes mit dem Körper eines Hundes (das Schild stellt den direkten Zusammenhang zwischen dem früheren Lotterleben und der Zeugung dieser Missgeburt als Tatsache dar: »Und deshalb wurde ihm ein Ungeheuer geboren …«). Da legte der Edelmann ein Gelübde ab und versprach der Jungfrau Maria, ihr zu Ehren eine Kapelle zu erbauen, wenn sie ihm die Gnade erweise, sein Kind sterben zu lassen. Wie sich aus der Darstellung des armen Hündchens und einer Madonna, die es durch einen Fußtritt vertreibt, schließen lässt, wurden die Gebete des unglücklichen Vaters erhört. In der Tat heißt es in einer Inschrift auf Hochdeutsch über dem Altar: ZUM LOBE GOTTES UND CHRISTLICHEN EINGEDENKENS WURDE DIESE KAPELLE ERRICHTET, AD 1682. Als ich das las, dachte ich: Nein, meine Mutter hätte das niemals getan. Auch wenn sie das Geld besessen hätte, um der Madonna eine ganze Kapelle zu stiften, hätte sie niemals gebetet, dass ich sterben möge.
Meine Mutter hat mir nie gesagt, dass meine Geburt ihr Leben über den Haufen geworfen hat. Ganz im Gegenteil. Als ich noch ein Kind war, klammerte sie sich an mich wie an ein winziges Floß im offenen Meer. Und darauf war ich stolz und wünschte mir, dass es mir gelingen möge, sie in Sicherheit zu bringen, hinaus aus den Stürmen ihres Lebens. Aber gerettet habe ich niemanden, weder sie noch mich.
Als junge erwachsene Frau habe ich versucht, meiner Unfä higkeit, sie glücklich zu machen, zu entfliehen. Ich erinnere mich, dass ich genau an dem Tag, als Ulli beerdigt wurde, beschloss, für immer fortzugehen, unsere leuchtenden Berge hinter mir zu lassen, die nach Heu duftende Luft, die Blütenpracht an den Balkonen. Plötzlich kam mir diese ganze Schönheit wie eine brutale Farce vor, welche die Engherzigkeit der Menschen, an der Ulli zugrunde gegangen war, nicht zu bemänteln vermochte. Ich konnte es mir erlauben. Ich war fünfundzwanzig, kinderlos
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