Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
zusammengedrängter Kinder, mit Sand, den die älteren Jungen den Kleinen in die Augen warfen, mit Übergriffen von Erziehern, die durch permanente Überlastung böse geworden waren.
Die Zeiten eines Eurostars mit Reservierungspflicht lagen damals noch in weiter Ferne, und unser Waggon sah aus, als wäre er mit Kriegsvertriebenen vollgestopft. Wie Kleider aus überfüllten Schränken, deren Türen nicht mehr richtig schließen, quollen die Jugendlichen aus den Abteilen. Sie hockten auf den Klappsitzen im Gang, mit anderen auf dem Schoß, auf dem Fußboden, auf den Stufen vor den Zugtüren, in den Toiletten (vor allem jene, die ohne Fahrkarte unterwegs waren, und das waren nicht wenige). Ich und der Junge, der mir den Urlaub bezahlte, saßen eingezwängt zwischen schweren, schlecht gepackten Ruck säcken aus grobem, dickem Gewebe mit Aluminiumgestellen, die das Gewicht gleichmäßiger auf dem Rücken verteilen sollten, tatsächlich aber nur in die Rippen stachen. Wir rochen nach Fußschweiß, Haschisch, Kaugummi mit Erdbeergeschmack und vor allem Rauch: Ständig hatten wir eine Zigarette zwischen den Fingern, was damals noch möglich war. In Bologna hielt unser Zug auf Gleis eins, und da sah ich, unmittelbar vor meinem Fenster, die zerstörte Wand mit dem Glas davor, die auch heute noch als Mahnmal an den Anschlag erinnert, sowie die Uhr, die die Tatzeit festhält: 10.25 Uhr.
Ich war im Alto Adige der Bomben und Attentate groß geworden und war auch schon alt genug, mir einen Reim auf den Tod von Onkel Peter machen zu können. Aber nicht einmal ich, das Kind eines Landstrichs, der Terroristen hervorgebracht hat, konnte damals – und kann es heute immer noch nicht – das ganze Ausmaß dieses Massakers von Bologna begreifen. Fünfundachtzig Tote, Hunderte von Verletzten: Dieses Blutbad gehörte zu einer anderen Kategorie des Grauens. Als der Zug wieder anfuhr, versuchte ich, mit meinem Reisegefährten darüber zu reden. Er antwortete nicht, ließ sich nicht darauf ein und wechselte bei erstbester Gelegenheit das Thema, sodass ich mit meiner Bestürzung allein zurechtkommen musste. Ich summierte diese Abgestumpftheit zu den anderen bereits zahlreichen Gründen, weshalb er meiner Liebe nicht wert war – dass er mir den Urlaub spendiert hatte, trat da für mich in den Hintergrund –, und brachte die Ferien damit zu, mich vor seinen Augen von anderen Jungen anmachen zu lassen. Am Lagerfeuer abends am Strand fummelte ich mit anderen Rucksackreisenden herum oder mit jungen Einheimischen von der Insel und suchte dabei immer wieder seinen Blick. Und ich fand ihn, jedes Mal: ein verwirrter, erregter, seltsam schuldbewusster Blick. Mein Klassenkamerad protestierte nicht, bei keiner Gelegenheit, sondern bezahlte mir weiter den ganzen Urlaub bis zum letzten Tag. Erst viele Jahre später, als ich ihn schon lange aus den Augen verloren hatte, erfuhr ich von gemeinsamen Bekannten, dass unter den Toten von Bologna auch eine Tante von ihm war, eine Frau aus dem Passeiertal. Er habe sie sehr gemocht, wurde mir erzählt, und bei ihrer Beerdigung geweint.
Heute, mitten in der Nacht, steht mein Zug im Bahnhof von Bologna auf Gleis vier, und von meinem Fenster aus kann ich den Riss in der zerstörten Wand nicht sehen.
Unter den von einem matten Mond erhellten Bahnsteigdächern wartet niemand. Die Lautsprecheransage, die über die wenigen ankommenden oder abfahrenden Züge informiert, hört sich wie die Stimme eines einsamen Rufers in der Wüste an: eines unsichtbaren Propheten mit breitem emilianischem Akzent. Seine Einsiedelei: keine mystischen Felsen, sondern Marmorbänke, Ge tränkeautomaten, Gleise. Die schwach besetzte Gemeinschaft seiner Anhänger: ich, der neapolitanische Liegewagenschaffner und der Lokführer, dessen Gegenwart sich mir seit Stunden nur im Bremsen und Beschleunigen des Zuges offenbart.
Der Prophet schleudert uns seine Warnungen entgegen:
»Nachtzug Intercity 780 Freccia Salentina von Bari nach Mailand Hauptbahnhof fährt vom Gleis …«
»Fernzug 1940 del Sole von Villa San Giovanni nach Turin Porta Nuova …«
Jetzt setzt sich auch mein Zug wieder in Bewegung, während er weiter vor tauben Ohren predigt.
Wir lassen die altmodische Bahnhofsbeleuchtung hinter uns und tauchen wieder in die Nacht ein, ins große Dunkel einer Nacht über dem offenen Land, einer Nacht, die weder Freund noch Feind für uns ist.
Genauso empfand ich es auch, wenn ich Ulli Gesellschaft leis tete, der die ganze Nacht Pisten
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