Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Blick zu, die aber nur kurz die Augen zusammenkniff und mit den Achseln zuckte, als wolle sie »schon gut« sagen.
Leni wohnte wieder an ebenjenem Berghang, wenn auch tiefer im Tal, wo sowohl der alte Hof der Familie Hu ber, den Gerda am Vortag aufgesucht hatte, als auch Paul Staggls Viersternehotel lagen. In nächster Nähe gab es noch einen weiteren Hof, der von Lenis Haus über einen kurzen Schotterweg zu erreichen war. Dort sah man auf der Schwelle unter dem Holzbogen ein Mädchen stehen. Sie stand dort, seit Gerda mit Eva im Arm aufgetaucht war, hatte sich seitdem nicht vom Fleck gerührt und starrte in einem fort herüber.
Keine zwei Stunden mehr, dann würde ihr Bus nach Bozen abfahren. Wollte Gerda, so wie sie es Herrn Neumann versprochen hatte, abends im Hotel zurück sein, durfte sie ihn nicht verpassen. Ruhig, als hätte sie noch alle Zeit der Welt, verabschiedete sich Gerda von Leni und trat auf das Nachbarhaus zu.
Das Mädchen in der Tür trug ein verschossenes, zu langes Kleid, das sie gewiss von einer der größeren Schwestern geerbt hatte; wie helle, dürre Äste ragten ihre nackten Beine aus den schwarzen Gummistiefeln hervor, ihre dünnen Zöpfe waren nachlässig geflochten und rahmten ein spitzes Gesicht mit fast weißen Wimpern ein. Gerda fragte sie, ob jemand im Haus sei. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie seien alle beim Heumachen, nur sie sei dageblieben, um ihrem kleinen Bruder eine Gersten suppe zu kochen. Ruthi heiße sie, erzählte sie weiter, und sie sei neun Jahre alt. Dann fragte sie, ob sie mal das Baby halten dürfe, und Gerda nickte. Friedlich, mit einem verwunderten Lächeln im Gesicht, glitt Eva von einem Händepaar zum anderen hinüber.
Ei, ei, ei, du, du du, machte Ruthi und verzog dabei sanft das Gesicht, was Eva zu gefallen schien. Dann stellte sie die Kleine auf die Füße und hielt sie wie eine aufmerksame Mutter, also nicht an den Handgelenken, sondern an den Unterarmen. Von Ruthi geführt, lief Eva ein paar Schritte, drehte sich um und blickte das Mädchen stolz an, das ihr mit einem erstaunten Lächeln zeigte, wie sehr sie Evas Leistung bewunderte.
Gerda betrachtete ihre Tochter im sicheren Griff dieser erfahrenen Kinderhände. Sie sah auf zu der Wiese hinter dem Hof, wo in der Ferne, kaum größer als etwas dunklere Punkte auf einer grünen Fläche, die Bauern mit ihren Sensen bei der Arbeit waren. Dann suchte sie Ruthis Blick.
Gerda saß schon im Bus auf dem Rückweg nach Meran, als Ruthis Großeltern, Eltern und größere Geschwister bemerkten, dass sich ihre vielköpfige Familie noch um ein Kleinkind von nicht einmal einem Jahr vergrößert hatte. Aus dem Nachbarhof rief man Leni herbei, und die erklärte ihnen, wer diese blonde junge Frau war, die Eva wie eine Puppe zurückgelassen hatte. Ruthis Vater drohte, seine Tochter den Gürtel spüren zu lassen, aber der Großvater ließ es nicht zu.
Sepp Schwingshackl war noch keine sechzig, aber seine Hände zitterten merklich, er hörte nicht mehr gut, und eine raue, weißliche Narbe teilte seine Augenbrauen, ein Andenken an Hermann Huber, als der ihm dreißig Jahre zuvor die Seele aus dem Leib geprügelt hatte. Allerdings besaß er auch den offenen Blick eines Menschen, der mit sich im Reinen ist, und das sanfte Lächeln eines Alten, der viel gesehen hat und sich mit Kindern auskennt. Eva auf Ruthis Arm blickte sich ängstlich um. Aber selbst jetzt weinte sie nicht, als sei sie sich darüber im Klaren: Wer auch immer diese Fremden waren – ob sie sich um sie kümmern würden, musste sich erst noch herausstellen. Behutsam hob Sepp sie jetzt der Enkelin aus dem Arm und nahm sie auf den Schoß.
»Gott hat sie uns gebracht, und wir werden sie bei uns aufnehmen«, erklärte er.
Nein, das war nicht Gott, sondern die Nutte von Tochter eines bösen Mannes, dachte sein Sohn, behielt es aber für sich.
Nein, das war nicht Gott, sondern eine schöne Frau wie meine Schwester Eloise, aber noch schöner, dachte Ruthi, behielt es aber für sich.
Es war Gott, also meine Mama, aber wo ist sie nur, dachte Eva. Aber da sie noch nicht sprechen konnte, behielt sie es für sich. Hätte sie es gekonnt, würde sie hinzugefügt haben: »Ich werde nicht mehr schlafen, bis sie wieder da ist.«
Müdigkeit und Verwirrung sorgten jedoch dafür, dass ihr langsam die Augen zufielen. Der kleine, flauschige Leib entspannte sich auf Sepps harten Knochen, seinem nach Holz, Seife und Schweiß riechenden Leib. Eva war eingeschlafen.
So begann
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