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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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antwortete ruhig, in höflichem Ton:
    »Ich bin hier, um Straftaten aufzuklären und Verdächtige festzunehmen. Ein Mörder bin ich nicht.«
    Da begann der Oberst der Gebirgsjäger zu brüllen:
    »Du sollst sie erschießen lassen! Und danach lässt du das Dorf niederbrennen. Mach es dem Erdboden gleich!«
    Der Carabinierioffizier spürte, dass er hungrig war. Oder genauer, sein Magen verkrampfte sich, was ihn daran erinnerte, dass er seit vielen Stunden nichts mehr gegessen hatte. Und er merkte, wie der Hunger seinen Zorn entflammte, und schrie zurück.
    »Du bist wahnsinnig!«
    »Das ist ein Befehl!«
    »Der Befehl ist Wahnsinn!«
    »Wenn du nicht gehorchst, bist du wegen Befehlsverweigerung dran!«
    »Wir sind doch keine Nazis!«
    Männer aller Dienstgrade, Alpini und Carabinieri, versammelten sich um sie. Nicht einmal die Ältesten unter ihnen hatten je erlebt, dass sich zwei Offiziere vor der Truppe dermaßen anbrüllten. Einigen von ihnen fiel der Unterkiefer herunter, viele standen wie in Trance mit offenem Mund da. Der Carabiniere packte den Gebirgsjäger am Arm, zerrte ihn zum Hubschrauber und stieß ihn hinein. Verlud ihn wie einen Rucksack oder eine Munitionskiste.
    »Schaff ihn fort«, wies er den Piloten an, und es klang weniger wie ein Befehl als vielmehr wie eine flehentliche Bitte.
    Der Pilot, ein Hauptmann, hatte die Szene schweigend beobachtet. Ihm war der Kiefer nicht heruntergeklappt, im Gegenteil: Sein Mund hatte sich zu einem schmalen violetten Strich verengt, weil er die Lippen so fest zusammenkniff. Den Blick des Tenente Colonnello meidend, als verbinde sie beide eine gemeinsame Scham, ließ er den Motor an. Schon durchschnitt der Propeller die Luft, die Männer legten eine Hand auf den Kopf, um ihre Mützen festzuhalten, der eine oder andere merkte jetzt, dass sein Mund noch offen stand.
    Metallisch und zoomorph wie ein fantastisches mittelalterliches Kriegsgerät erhob sich der Hubschrauber in die Lüfte. Der Tenente Colonnello sah ihm nach, wie er sich entfernte, immer kleiner wurde, bis ihn der Himmel verschluckte, der nun eine rosafarbene Tönung annahm. Er fühlte sich erfüllt von einer besonderen Dankbarkeit diesem Piloten gegenüber, der zumindest mit einer Disziplinarstrafe rechnen musste. Ein Mann, von dem er noch nicht mal den Namen kannte und dessen Gesicht er schon wieder vergessen hatte.
    Die Folgen des Militäreinsatzes an diesem goldenen Septembertag des Jahres 1964 waren zahlreich und sehr unterschiedlich.
    Kein einziger Terrorist wurde im Verlauf der Operation verhaftet. Alle Festgenommenen mussten nach wenigen Tagen wegen erwiesener Nichtbeteiligung an den jüngsten Sprengstoffanschlä gen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Nur ein alter, schwerhöriger Mann, der sich den Ermittlungsbeamten nicht verständlich machen konnte, wurde nach Venedig überstellt, wo er fast drei Monate lang, bis zum Dezember, inhaftiert wurde.
    Sigi blieb für sein Leben gezeichnet durch diesen Gewehrlauf, der auf sein Köpfchen gerichtet war: Als Erwachsener entwickelte er sich zu einem fanatischen Anhänger Andreas Hofers und trat einer Schützenkompanie bei. So jedenfalls versuchte es sich Ulli zu erklären, wenn er wieder einmal erkennen musste, dass sein Bruder zu einem dumpfen, homophoben Rassisten geworden war. Mit dieser Deutung unterschlug er allerdings die Tatsache, dass zwar er und seine Mutter an jenem Tag traumati siert wurden, nicht aber der kleine Sigi. Denn der hatte die ganze Zeit fest geschlafen.
    Nach Ableistung seines Wehrdienstes wieder zu Hause, erlebte der junge Hilfscarabiniere aus Niscemi im Traum die Szene wieder, wie er auf die taube alte Frau schoss. Diesmal jedoch sah er, wie das Gesicht der Alten, nachdem er den Abzug betätigt hatte, in einer Explosion aus Feuer, Blut und Entsetzen vor seinen Augen zerbarst. Gleich am nächsten Morgen eilte der junge Mann zur Kirche Santa Maria Odigitria und warf sich dort voller Inbrunst zu Füßen der Madonna nieder, die ihm die größte Gnade gewährt hatte, nämlich ein schlechter Schütze zu sein.
    In den italienischen Zeitungen las man nichts über diesen Militäreinsatz, nur in den deutschsprachigen, denen man daraufhin staatsfeindliche Propaganda vorwarf. Ein Abgeordneter des Provinzrates machte sich daran, die Zeugenaussagen der betroffenen Bauern zu sammeln, um sie in einer Denkschrift zu veröffentlichen und damit eine von der Südtiroler Volkspartei beantragte parlamentarische Anfrage zu dem Vorgang zu unterstützen.

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