Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
gefragt. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob dieser Mann, der wenige Stunden zuvor mitten in der Nacht in ihrem Bett aufgetaucht und bald schon wieder verschwunden war, eben jener Peter Huber war, dem sie vor langen Zeiten einmal ewige Treue geschworen und dessen Gesicht sie seit Monaten nicht mehr bei Tageslicht gesehen hatte. Im Moment wusste sie nur, dass der Kopf ihres älteren Sohnes von einer Bratpfanne geschützt zwischen ihren Schenkeln steckte und auf den zarten, nach Schlaf duftenden Kopf des jüngeren in der gegenüberliegenden Ecke der Küche ein Gewehr gerichtet war. So weit voneinander entfernt wie verschiedene Kontinente kamen ihr die Köpfe ihrer beiden Söhne vor, und dazwischen breitete sich der Ozean ihrer mütterlichen Machtlosigkeit aus.
Schweigend schauten sie sich an, so als suchten beide, Leni und der Soldat, nach einer Antwort, die ihnen verschlossen war. Nach einer Weile legte der Soldat (zwanzig Jahre alt, aus Bucchianico in den Abruzzen gebürtig) die Stirn in Falten und blinzelte, als sei ihm ein Staubkorn ins Auge geraten, das er nicht herausholen konnte, weil er keine Hand frei hatte. Und so ließ er das Gewehr sinken.
Alle Männer und auch einige Frauen waren auf dem Platz zwischen den Häusern zusammengetrieben und in Handschellen zu dem nahen Bach geführt worden. Unter ihnen befanden sich auch Sepp Schwingshackl und dessen ältere Söhne. Seine Frau Maria hatte, als die Razzia begann, mit der kleinen Eva im Arm vor dem Stall gestanden und gerade noch Zeit gefunden, das Kind auf den Boden zu setzen, als sich schon die Handschellen um ihre Gelenke schlossen und sie abgeführt wurde. Eva saß nun zwischen den Kamilleblüten und stützte sich mit den gespreizten Fingern auf der Erde ab. Doch die genagelten Stiefelsohlen traten nicht auf ihre Hände, die glühenden Läufe der halb automatischen Waffen verschonten ihr Gesicht. Als Ruthi sie entdeckte, rannte sie herbei, als sei es mittlerweile ihr Schicksal, Eva zu retten. Sie setzte sich die Kleine auf die ein wenig vorgereckte linke Hüfte, wie es Mütter gewöhnlich tun, um die rechte Hand frei zu haben, und blieb, plötzlich wie erstarrt vor Unsicherheit und Angst, inmitten der herumfliegenden Hühnerfedern und hin und her hetzenden Soldaten stehen.
Einer von diesen (aus Acettura in der süditalienischen Provinz Matera gebürtig, achtzehn Jahre alt, Schulbildung: dritte Volksschulklasse), ein Junge mit Pickeln auf Stirn und Backen und nur ein wenig samtenem Flaum statt eines Schnurrbarts auf der Oberlippe, hatte unterdessen damit begonnen, wie von Sinnen auf den Schnittpunkt der dicken Balken zu feuern, die das Stalldach trugen. Bei jedem Schuss riss Eva die Augen auf. Ihr Blick folgte den Patronenhülsen, die wie wild gewordene Insekten durch die Luft zischten und zu Boden fielen, und dem Rauchwölkchen, das den Lauf einzuhüllen begann wie Dampf einen Topf, der zum Abkühlen auf der Fensterbank steht. »Peng« machte die Beretta BM59, und Evas Augen weiteten sich zu zwei blauen Knöpfen. Peng, und Eva hielt den Atem an. Peng! Peng!
Stundenlang mussten die Dörfler gefesselt am Ufer stehen, während die Soldaten auf die Häuserwände schossen, Hand granaten in Ställe und Scheunen warfen und sich in den Küchen mit Speck und Käse, Bier und Brot bedienten. Vier mittlerweile betrunkene Alpini packten Ruthis älteste Schwester Eloise an den Armen und schleiften sie hinter eine Dunggrube. Sie hatten sie bereits zu Boden geworfen, als ein Tenente Colonnello, ein Oberstleutnant, dazwischenfuhr und ihnen befahl, sie gehen zu lassen. Schon wollte das Mädchen, unter Tränen, ins Haus laufen, da wurde es wieder gepackt und zu den anderen Bauern gebracht, die am Bach zusammengetrieben waren. Als die Sonne langsam unterging, standen sie immer noch da und hielten sich aneinander fest, um nicht ohnmächtig zu Boden zu sinken.
Dies alles gefiel dem Tenente Colonnello der Carabinieri überhaupt nicht. Das war nicht der Kampf gegen den Terrorismus, wie er ihn sich vorstellte.
Er stand zwischen diesen von der Septembersonne idyl lisch beschienenen Bauernhöfen und sollte eine Operation leiten, die taktisch falsch angelegt war und, wie jeder Offiziersanwärter im ersten Jahr sofort erkannt hätte, zum Scheitern verurteilt war. Völlig unangemessen war diese Aktion, sowohl in der Wahl der Mittel als auch in der Zielsetzung: Sollte ihm doch mal einer erklären, wie man auf diese Weise, indem man mit solch einem wahnsinnigen Aufgebot an
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