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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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sich die Strömungen zwischen Berg und Tal einen Moment lang aufheben, die Luft steht und sich Kälte und Wärme nicht wie üblich vermischen: Genau in diesem kurzen Zeitraum, der so dunkel ist, still und reglos, in dem nichts passiert, rücken Polizei und Soldaten an, mit Stiefeln und Mannschaftswagen, brüllen Befehle, die nichts ordnen, sondern nur einschüchtern sollen mit jener Urgewalt, die ein Mensch mit einer Waffe in der Hand über Unbewaffnete ausübt.
    Doch diesmal war es helllichter Tag, kurz vor Mittag, als die uniformierten Einheiten am Steilhang über dem Tal bei den Bauernhäusern vorfuhren, die sich um eine kleine Kirche drängten. Eine Gemeinschaftsaktion von Gebirgsjägern, Carabinieri und Polizei, fast tausend Mann, mit Mannschaftswagen, gepanzerten Fahrzeugen und sogar einem richtigen Panzer. Es war also nicht schwer, auf sie aufmerksam zu werden. Im Schutz einer Heugarbe wurden Gewehrschüsse abgegeben. War es der Gesuchte, Peter Huber, der da schoss? Und wenn ja, waren auch die anderen bei ihm? Die Leute, die nur wenige Tage zuvor eine Panzerabwehrgranate gezündet und ein halbes Dutzend Soldaten verletzt hatten? Waren es Terroristen, die dort hinter den Heugarben lauerten? Und wie viele waren es? Oder war es nur einer? Das konnte man nie wissen. Wie Kinder, die Cowboy und Indianer spielten, hatten sie aus einer provisorischen Deckung auf die Soldaten geschossen, doch die Waffen waren echt, und ein Mann wurde verwundet. Wer sie auch sein mochten, jetzt flohen sie die steilen Hänge hinauf, folgten erst den Pfaden der Jäger und dann denen der Steinböcke, tauchten, wie nach jedem Anschlag, auf österreichischem Territorium unter und ließen die Bewohner der Höfe allein, die jetzt die Wut und Enttäuschung der italienischen Polizisten und Soldaten zu spüren bekamen. Plötzlich hallten Glockenschläge durch die klare Septemberluft, als wollten sie Alarm schlagen.
    Es war Lukas, der alte Küster mit dem schütteren, meist ungekämmten Haar und den kurzen, doch vom jahrzehntelangen Glockenstrangziehen muskulösen Armen. Der Umstand, dass die Siedlung von bewaffneten Soldaten eingekreist war, schien ihm kein Grund zu sein, seine tägliche Pflicht zu vernachlässi gen: Mittags um zwölf wurde zum Angelus geläutet. Die Soldaten allerdings kannten weder Lukas noch sein Pflichtbewusstsein, folgerten, dass dies ein Signal für die Terroristen sein müsse, von oben das Feuer zu eröffnen, und erstürmten daraufhin diese kleine Ansammlung einzelner Bauernhäuser, als gelte es, eine Festung zu schleifen.
    Sie traten Türen ein und brüllten Befehle, als wäre der Krieg nie zu Ende gegangen und Italiener und Nazis immer noch Verbündete. Sie schossen auf die Hühner, die aufgeregt ihre Füße umflatterten, und verwandelten sie in reglose Klumpen aus Federn und Blut. Männer, Frauen, Alte und Kinder, alle wurden aus den Häusern getrieben. Auch in die Stube, wo eine taube alte Frau, eingeschlossen in die Stille, die sie seit Jahrzehnten umgab, vor einem Spinnrad saß, stürmte ein Soldat, ein junger Mann aus Niscemi in der Provinz Caltanisetta, der gerade mal zwei Monate Wehrdienst hinter sich hatte. Er war achtzehn und mit einem Sturmgewehr bewaffnet, von dem er kaum wusste, wie damit umzugehen war. Als er die alte Frau inmitten des Geschreis und der Schüsse so reglos dasitzen sah, vermutete er, dass sie etwas zu verbergen habe, zielte auf ihr Gesicht und schoss. Er verfehlte sie, und unmittelbar neben dem grauen Zopf, den sie um den Kopf geschlungen hatte, schlug die Kugel hinter ihr ein, wie ein neues Astloch in der mit Zirbelkiefernholz verkleideten Wand. Erst jetzt hob die Frau den Kopf.
    Zwei andere Soldaten drangen ins Haus von Lenis Eltern ein. Als Ulli sie sah, rannte er quer durch die Küche zu seiner Mutter und barg sein Gesicht zwischen ihren Beinen. Vielleicht würde dieser Albtraum enden, wenn er sich weigerte, ihm ins Angesicht zu schauen. Leni senkte die Pfanne, in der sie gerade ein Stück Butter hatte schmelzen wollen, und hielt sie ihm wie einen Schutzschild vor den Kopf. Der eine Soldat blieb in der Tür stehen, während der andere zu dem Bettchen in einer Ecke des Raumes trat, die MP auf den Kopf des schlafenden Sigi richtete und gleichzeitig Leni zuschrie, sie solle ihm sagen, wo ihr Mann stecke, sonst werde er abdrücken.
    Leni wusste nicht, wo Peter war. Sie wusste weder, wo er sich aufhielt, noch was er tat und aus welchem Grund. Sie hatte es nie gewusst und ihn auch nie danach

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