Evas Auge
sich abgetrocknet und angezogen hatte, ging er ins Wohnzimmer und wählte die Nummer seiner Tochter Ingrid, ihres einzigen Kindes. Sie plauderten eine Weile über alles mögliche, und vor dem Auflegen sagte er Matteus noch gute Nacht. Danach fühlte er sich besser. Vor dem Weggehen blieb er vor Elises Bild stehen, das über dem Sofa hing, sie lächelte ihn an, ein strahlendes Lächeln mit tadellosen Zähnen, sie schien keine einzige Sorge zu haben. Damals hatte sie auch keine. Das Bild hatte ihm immer schon gefallen. Aber in letzter Zeit störte es ihn, jetzt wünschte er sich einen anderen Gesichtsausdruck, vielleicht ein Bild, auf dem sie ernst aussah, das seiner eigenen Stimmung eher entsprach. So ein Bild, wie bei Ingrid über dem Klavier hing. Vielleicht könnten sie tauschen. Er dachte ein wenig darüber nach, während er Kollberg auf den Rücksitz springen ließ und in Richtung Frydenlund losfuhr. Er wußte noch nicht so recht, was er sagen wollte, wenn er dort eintraf, aber wie immer verließ er sich auf die Kunst der Improvisation, die er sehr gut beherrschte. Die Menschen fühlten sich oftverpflichtet, die Gesprächspausen zu füllen, die Stille war ihnen häufig peinlich. Und ihm ging es um dieses fieberhafte Gerede, dabei rutschten ihnen manchmal Dinge heraus, die für ihn nützlich sein konnten. Und Jostein Magnus erwartete seinen Besuch ja nicht. Er konnte sich nicht vorher mit seiner Exfrau absprechen. Er konnte sich zwar weigern, überhaupt den Mund aufzumachen, aber das passierte eigentlich nie. Bei diesem Gedanken mußte Sejer lächeln.
Magnus hatte Eva das alte Haus in Engelstad überlassen und war in eine Wohnung in Frydenlund gezogen. Sejer hatte schon häßlichere Wohnblocks gesehen, den zum Beispiel, in dem er selber wohnte. Diese Blocks hier lagen in der Mitte einer weiten Rasenfläche, jeder hatte sechs Stock, und sie bildeten einen Halbkreis, wie umgekehrte Dominosteine, weiß, mit schwarzen Augen. Wenn der Block am Rand umkippte, dann würde die ganze Reihe fallen. Die Bewohner waren von der kreativen Sorte. Vor den Häusern und neben den Eingängen gab es viele Blumenbeete und Büsche, und bald würde alles blühen. Es herrschte Ordnung, Steinchen und Staub waren vom Asphalt vor den Türen weggespült worden. Jede Tür war auf zurückhaltende Weise verziert, mit schönen Namensschildern oder getrockneten Blumen.
Die Mitbewohnerin machte ihm auf. Er sah sie neugierig an, wollte sich eine Meinung über diese Frau bilden, die Eva Magnus ausgestochen hatte. Sie war ein üppiger, weiblicher Typ, der überall strotzte, Sejer wußte fast nicht, wo er hinschauen sollte. Eva Marie mit ihrem dunklen mageren Ernst hatte gegen dieses mollige Engelchen bestimmt keine Chance gehabt.
»Sejer«, sagte er freundlich. »Polizei.«
Sie ließ ihn sofort eintreten. Da er so breit lächelte, fragte sie nicht, ob etwas passiert sei, wie andere das oft taten, wenn er die ernste Maske aufsetzte, was durchaus vorkam. Aber die Frau blickte ihn fragend an. »Ich wollte eigentlich nur ein bißchen reden«, sagte Sejer. »Mit Magnus.«
»Ach so. Der sitzt im Wohnzimmer.«
Sie führte ihn hin. Ein rothaariger Riese erhob sich vom Sofa. Vor ihm auf dem Tisch, auf der Zeitung, lagen eine prähistorische Echse aus Holz und eine Tube Klebstoff. Die Echse hatte ein Bein eingebüßt.
Sie gaben sich die Hände, der Riese konnte mit seinen Kräften nicht haushalten oder hielt es für unnötig, wenn es um Sejer ging. Jedenfalls wirkte der Polizist neben ihm schmächtig, und seine Hand wurde übel malträtiert.
»Setzen Sie sich«, sagte Magnus. »Haben wir etwas zu trinken, Sofie?«
»Das ist nur ein informeller Besuch«, erklärte Sejer. »Aus purer Neugier.«
Er setzte sich bequemer hin und fügte hinzu:
»Ich komme ganz einfach, weil Sie mit Eva Magnus verheiratet waren und sich sicher an den Mord an Marie Durban erinnern.«
Magnus nickte. »Ja, daran erinnere ich mich natürlich. Das war wirklich eine makabre Geschichte. Haben Sie den Mörder noch immer nicht? Es ist doch schon so lange her. Ja, ich habe mich nicht auf dem Laufenden gehalten, und Eva erwähnt es nie mehr, also – aber ich dachte schon, Sie wären aus einem anderen Grund hier, die Durban-Sache hatte ich fast vergessen. Na, fragen Sie doch einfach. Wenn ich es weiß, dann weiß ich es.«
Er breitete die Arme aus. Ein sympathischer Bursche, warm und herzlich.
»Und was haben Sie geglaubt, warum ich gekommen bin?« fragte Sejer neugierig.
Ȁh
Weitere Kostenlose Bücher