Evas Auge
Nacht. Sie schloß den Bademantel wieder und fischte die Flasche aus dem Spülbecken. Sie wollte überhaupt nicht mehr nachdenken, sondern es einfach nur tun. Niemand brauchte davon zu erfahren. Nur vorübergehend, vielleicht bis Weihnachten, bis sie sich ein wenig saniert hatte. Sie trank das Bier und merkte, wie ihre Nerven zur Ruhe kamen. Ich habe mich eigentlich nicht verändert, überlegte sie, ich habe nur eine neue Seite entdeckt. Sie trank und rauchte und träumte sich weg, zu ihrer eigenen kleinen Galerie, die unten am Fluß liegen sollte, am liebsten auf dem Nordufer. Galerie Magnus. Das hörte sich nicht schlecht an. Eine plötzliche Eingebung ließ sie mit dem Gedanken spielen, ihre Bilder ein bißchen farbiger zu gestalten. Auf dem ersten Bild ein ganz dünner roter Strich, kaum zu sehen, dann später immer ein wenig mehr. Sie fühlte sich gewaltig inspiriert. Danach machte sie noch eine Flasche auf und dachte, daß gerade das in ihrem Leben gefehlt habe. Maja hatte gefehlt! Aber jetzt war sie wieder da. Alles wird sich finden, dachte Eva zufrieden, das hier ist der Wendepunkt. Als sie alle Flaschen geleert hatte, schlief sie wieder ein.
Um sechs Uhr hupte vor dem Haus das Taxi.
Eva hatte das Bild in eine alte Decke gewickelt, und der Fahrer verstaute es sorgsam im Kofferraum. »Vorsichtig fahren«, bat sie, »es ist zehntausend Kronen wert.«
Sie nannte die Adresse in der Tordenskioldsgate und hatte plötzlich das Gefühl, daß der Fahrer sie im Rückspiegel anstarrte. Vielleicht kannte er Maja. Vielleicht war jedes zweite Mannsbild, das hier durch die Straßen ging, in ihrem Bett gewesen. Eva wischte sich Fusseln vom Rock und merkte, daß sie nervös wurde, ihr Bierrausch hatte sich gelegt, die Wirklichkeit kehrte zurück. Aber es war schon seltsam, wenn Emma so lange nicht bei ihr war, dann schien sie die ganze Mutterrolle in eine Schublade zu stecken und nur noch Eva zu sein. Das bin ich jetzt, dachte sie, ich bin Eva. Es ist mir egal, was andere vielleicht denken, ich mache, was ich will. Sie lächelte. Der Fahrer sah es und erwiderte das Lächeln im Rückspiegel. Bilde dir bloß nichts ein, dachte sie. Mich kriegst du auch nicht gratis.
---
M aja lachte und zog sie in die Wohnung. Die Ausschweifungen der vergangenen Nacht hatten in ihrem runden Gesicht keinerlei Spuren hinterlassen.
»Komm rein, Eva. Du hast das Bild mitgebracht!«
»Du wirst in Ohnmacht fallen.«
»Ich falle nie in Ohnmacht.«
Sie packten das Bild aus und lehnten es an die Wand.
»Himmel!«
Maja verstummte und sah sich das Bild ganz genau an.
»Ich muß schon sagen. Du bist wirklich etwas Besonderes. Hat es einen Namen?«
»Nein, spinnst du?«
»Warum hat es keinen?«
»Weil ich dann entscheide, was du sehen sollst, und das will ich nicht. Du kannst dir das Bild selber ansehen und mirerzählen, was du siehst. Und danach kriegst du dann meine Antwort.«
Maja dachte lange nach und sagte schließlich: »Das ist ein Blitzschlag. Genau.«
»Ja, das ist nicht dumm. Ich weiß, was du meinst, aber ich sehe noch mehr. Die Erde, die bei einem Erdbeben Risse wirft. Oder den Fluß, der nachts durch die Stadt fließt, im Mondschein. Oder glühende Lava, die über eine verkohlte Ebene strömt. Morgen wirst du vielleicht wieder etwas anderes sehen. Ich meine, so habe ich mir das jedenfalls vorgestellt. Du mußt versuchen, dich von alten Vorstellungen loszureißen, wenn es um Kunst geht, Maja.«
»Ich bleibe beim Blitzschlag. Ich mag es nicht, wenn Dinge sich verändern und zu etwas anderem werden. Und du bist hier diejenige, die sich losreißen muß, Herzchen. Ich habe das andere Zimmer fertig gemacht, das mußt du dir mal ansehen. Hast du schon gegessen?«
»Nur getrunken.«
»Du bist schlimmer als ein Säugling, du mußt wohl gefüttert werden! Kannst du selber kauen, wenn ich dir ein Brot mache?«
Sie zog Eva durch die Wohnung. Das freie Zimmer war ein dunkler Raum mit viel Rot, Plüsch und Samt und schweren, geschlossenen Vorhängen. Das Bett war riesengroß. Eine Decke mit Goldfransen lag darauf. Den Boden verbargen dicke schwarzrote Teppiche, die Füße sanken beim Gehen ein.
»Das sind deine Farben«, sagte Maja energisch. »Und ich habe einen roten Morgenrock für dich, der sich leicht öffnet. Aus dünnem Samt. Hier drinnen«, sie ging durch das Zimmer und zog einen Vorhang beiseite, »hast du ein kleines Badezimmer mit Waschbecken und Dusche.«
Eva schaute hinein.
»Du kannst hier arbeiten, wenn ich beim Notruf
Weitere Kostenlose Bücher