Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
Aber niemand wollte in dieser Welt ein Kind großziehen. Die Leute versuchten einfach zu überleben und ihr eigenes Leben zu organisieren. Ja, das ändert sich mittlerweile, Stück für Stück. Paare bekommen wieder Kinder. Doch dieses Land konnte es sich nicht leisten zu warten. Wir brauchten neuen Wohnraum, eine Hauptstadt, Bevölkerungswachstum, und zwar sofort.«
Ich starrte auf die hellen Gebäude vor mir, ihre Fassaden waren zu weichen Pastellfarben verblasst – Blau-, Grün- und Rosatöne. Es ließ sich leicht erkennen, was auf der Hauptstraße renoviert worden war: Die Farben waren leuchtender, das Glas funkelte im Mittagslicht. Die asphaltierten Straßen waren von Schutt, Unkraut und Sand befreit. Doch es gab auch die Fläche draußen an der Mauer, die ganz anders war. Baufällige Häuser mit eingestürzten Dächern versanken zur Hälfte im Sand. Schilder waren umgekippt. Vertrocknete Palmen lagen auf den Straßen. Auf den Nutzflächen ließen Kühe, die sich in ihren überfüllten Pferchen kaum rühren konnten, den Boden wie eine schwarze wogende Masse aussehen. Auf einem verlassenen Parkplatz standen verrostete Autowracks aufgereiht. Von hoch oben ließen sich die Verbesserungen klar erkennen – Gebäude waren entweder renoviert worden oder unter Sand begraben und zerstört. Der König hatte sie entweder gerettet oder dem Zerfall preisgegeben.
»Ich kann dir nicht vergeben, was du getan hast. Meine Freundinnen sind noch immer Gefangene. Deine Soldaten haben bei der Jagd auf mich gute Menschen getötet. Sie haben nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sie sie erschossen.« Ich dachte an Marjorie und Otis, die uns auf dem Pfad Zuflucht gewährt und uns in ihrem Keller versteckt hatten. Sie waren dafür umgebracht worden.
Der König wandte sich wieder zum Turm. »In der Wildnis hat der Selbstschutz für die Soldaten höchste Priorität. Ich will das nicht rechtfertigen, nein. Aber sie haben aus Erfahrung gelernt, dass Zusammenstöße mit Streunern tödlich ausgehen können.« Er atmete tief aus und zupfte am Kragen seines Hemdes herum. »Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, Genevieve. Aber ich habe dich gesucht, weil du meine Familie bist. Ich möchte dich kennenlernen. Ich möchte, dass dich diese Stadt als meine Tochter anerkennt.«
Familie. Ich drehte das Wort in meinem Kopf hin und her. War es nicht genau das, was ich mir auch immer gewünscht hatte? Pip und ich hatten nachts wach gelegen und darüber fantasiert, wie es wäre, wenn wir Schwestern wären und in der Welt vor der Seuche aufwüchsen, in irgendeinem normalen Haus in irgendeiner normalen Straße. Sie erinnerte sich an ihren zwei Jahre älteren Bruder, der sie Huckepack durch den Wald getragen hatte. Genau das hatte ich mir gewünscht, hatte es gehofft und gewollt in jenen letzten Tagen, als ich allein mit meiner Mutter in diesem Haus war. Ich hatte mich danach gesehnt, dass jemand bei mir wäre, mit mir neben ihrer Tür säße, um dem leisen Rascheln ihrer Laken zu lauschen, dass jemand mir helfen würde, diesen schrecklichen trockenen Husten zu ertragen. Doch nun, da ich eine Familie hatte, wollte ich sie nicht mehr – nicht so. Nicht den König. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, erwiderte ich.
Er legte mir die Hand auf die Schulter. Er war so nah, dass ich die feine Sandschicht auf seinem Anzug sehen konnte. »Wir haben für morgen eine Parade geplant«, sagte er schließlich. »Es ist an der Zeit, dass die Bewohner erfahren, dass du hier bist; Zeit, dass du deinen Platz als Prinzessin des Neuen Amerika einnimmst. Wirst du darüber nachdenken, ob du uns begleiten wirst?«
»Ich scheine keine andere Wahl zu haben«, sagte ich. Er antwortete nicht. Mein Magen rumorte. Arden war in irgendeinem kalten Raum und ich war hier, hoch über der Stadt, die Tochter des Königs und diskutierte über eine Parade. »Du musst meine Freundinnen freilassen«, sagte ich. »Arden, Pip und Ruby sind noch immer in dieser Schule. Du musst die Suche nach Caleb einstellen. Ich war diejenige, die …«
»Wir brauchen nicht weiter darüber zu reden«, sagte der König mit leiser Stimme. Er wandte sich dem Gebäude zu, wo ein Soldat durch ein Metallfernrohr auf irgendetwas hinter uns starrte. »Zwei Soldaten sind tot. Jemand muss dafür zur Verantwortung gezogen werden.« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wollte er sagen: Und das wirst nicht du sein.
»Dann sag mir wenigstens, dass du meine Freundinnen freilassen wirst. Versprich mir
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