Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
könnten zu der Anlegestelle zurückgehen, an der diese drei Worte zwischen uns schwebten. »Morgen Nacht«, wiederholte ich, als Caleb mir eine weitere zusammengefaltete Karte in die Hosentasche schob. Er küsste mich zum Abschied – auf die Finger, die Hände, die Wangen, die Stirn. Ich blieb noch einen Moment dort stehen. Der Rest der Welt schien so weit weg.
Doch als ich durch die Stadt lief, allein bis auf den Hall meiner Schritte, gingen mir die Worte von Curtis und Jo wieder durch den Kopf. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Fall einem imaginären Publikum auseinandersetzte, wie ich meine Stellung im Palast zu rechtfertigen versuchte – über die nicht einmal ich mir vollkommen sicher war.
Erst als ich an der großen Springbrunnenanlage vorbeikam, deren Oberfläche spiegelglatt und reglos dalag, dachte ich an Charles. Ich sah sein Gesicht, als er mir an jenem Nachmittag im Wintergarten die Glaskuppel gezeigt und all seine Sanierungspläne erklärt hatte.
Ich rannte das Treppenhaus hinauf, indem ich immer zwei Stufen auf einmal nahm, und kümmerte mich nicht um das Brennen in meinen Beinen. Fünfzig Stockwerke waren schnell geschafft, die spontane Idee hatte meinem Körper einen Energieschub gegeben. Endlich gab es etwas, das ich tun konnte.
VIERUNDZWANZIG
»Die Gebäude, die einer Sanierung unterzogen werden sollen, werden zunächst von Ihrem Vater ausgewählt«, erklärte Charles und breitete Fotos auf dem Tisch aus. »Wir machen eine Ortsbegehung, vermessen alles und schauen uns an, in welchem Zustand das Gebäude ist. Anschließend sichte ich alle Unterlagen, die ich aus der Zeit vor der Epidemie zusammengetragen habe – Grundrisse, Blaupausen, Fotos –, um etwas über den ursprünglichen Zustand in Erfahrung zu bringen und zu entscheiden, was renoviert werden kann und was wir abreißen lassen.«
Ich nickte, mein Blick wanderte zu den langen Schubladen auf der anderen Seite des Raums. Die Suite im dreißigsten Stock war zu Charles’ Büro umgewandelt worden. Das Bett und die Kommoden hatte man durch große Aktenschränke ersetzt, der Schreibtisch stand vor einer großen Glasfront mit Blick auf die Hauptverkehrsstraße. Auf einem langen Holztisch waren Modelle aufgebaut, Miniaturversionen einiger der Bauten, die ich in der Innenstadt gesehen hatte: der Wintergarten mit der Glaskuppel, die Gärten des Venetian und der Zoo des MGM Grand. In einem kleineren Raum standen weitere Modelle, einige davon aufeinandergestapelt. Ich hatte ihn an diesem Morgen beim Frühstück gebeten, mir sein Büro zu zeigen. Über Charles’ Gesicht war ein Leuchten gezogen. Der König hatte uns gedrängt loszugehen, obwohl unsere Teller noch auf dem Tisch standen und das Essen darauf noch warm war.
Ich nahm ein anderes Foto hoch, auf dem die Achterbahn und das Casino im ehemaligen New York-New York-Hotel zu sehen waren. »Es ist faszinierend«, setzte ich an. Der abgegriffene Schnappschuss zeigte Menschen, die angeschnallt in einem Wagen saßen und vor Freude schrien. Es war tatsächlich faszinierend zu sehen, wie die Welt einmal ausgesehen hatte, vor so vielen Jahren. Aber es war unmöglich, darauf zu blicken, ohne an das zu denken, was uns hierhergebracht hatte – an die Jungen in der Höhle oder an die Narben quer über Leifs Rücken.
»Ich bin erleichtert, Sie das sagen zu hören«, meinte Charles. »Ich könnte stundenlang darüber reden. Manchmal habe ich Angst, Sie zu langweilen.«
Ich lachte leise und erinnerte mich an einen von Lehrerin Frans Sprüchen. »Nur langweilige Leute langweilen sich«, sagte ich leise. Ich drehte ein Foto in den Händen und versuchte, die verwischte Schrift auf der Rückseite zu entziffern. Als ich aufsah, stellte ich fest, dass Charles mich anblickte. »Das haben die Lehrerinnen immer gesagt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist albern, ich weiß.«
»Die Lehrerinnen«, sagte er. »Ach ja, richtig, mir ist gerade aufgefallen, dass wir noch nie über Ihre Schule gesprochen haben.«
»Wer nichts Nettes zu sagen hat, sagt lieber gar nichts«, fügte ich hinzu und hielt ihm das Foto entgegen. »Das war ein anderer Spruch.« Ich sah durch die Türöffnung hinter ihm. Dieser eine Raum enthielt so viele Unterlagen – in den Ecken stapelte sich das Papier, Blaupausen der meisten Innenstadtgebäude. Es musste noch weitere Informationen hier geben, etwas, das nützlich für Caleb sein könnte – ich musste es bloß finden.
»Aber Sie waren das Mädchen, das die Abschiedsrede
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