Eve & Caleb - 03 - Kein Garten Eden
dieser Nacht hatte ich ihn nie gesehen.
»Ich kann darüber nicht reden«, sagte ich schließlich, während ich mein Abbild in dem kleinen, geschwungenen Spiegel in der oberen Ecke des Aufzugs musterte. »Ich kann es einfach nicht.« Ich schob meine Hände tief in meine Taschen, um das Zittern zu unterdrücken.
»Du musst das nicht alleine durchstehen. Ich kann dir helfen.« Wieder beugte er sich vor, um mir in die Augen zu sehen. Er streckte die Hand aus und ich legte meine Hand hinein. Langsam kehrte die Wärme in meine Finger zurück. »Was immer du brauchst, Genevieve.«
Ich wollte ihm glauben, ich wollte ihm vertrauen, doch dann war da dieser Name: Genevieve. Der Grund, weswegen ich allein war; einer von vielen Gründen, die er nicht verstehen konnte. Noch immer nannte er mich manchmal so und verfiel dabei in die Sprechweise meines Vaters, versuchte auf dieselbe förmliche, gestelzte Art, Nähe zwischen uns zu erzeugen. Nun, da die Belagerung fehlgeschlagen war und mein Vater die Stadt wieder unter Kontrolle hatte, konnte er mir nicht helfen. Er wusste nicht einmal, wer ich war.
Einen kurzen Augenblick lang wollte ich ihm alles erzählen; ich wollte sein Gesicht sehen, wenn ich gestand, dass ich versucht hatte, meinen Vater zu töten. Dass die fehlenden Blaupausen, über die er sich eines Nachmittags beim Durchsehen seiner Unterlagen gewundert hatte, in Wahrheit von mir gestohlen und an die Rebellen weitergegeben worden waren. Dass Reginald, der Pressechef des Königs, mein einziger wahrhaftiger Vertrauter innerhalb der Palastmauern gewesen war, dass in der Zeitung täglich Codes standen, von denen er mir neulich sogar einen vorgelesen hatte, ohne es zu merken. Was würde er wirklich sagen, was würde er wirklich tun, wenn ich ihm mitteilte, dass ich heute fliehen würde, allein und möglicherweise für immer?
Die Tür ging auf, und während ich auf den Flur hinaustrat, zog ich meine Hand aus seiner. »Wenn du mir helfen willst«, sagte ich, »lass mich in Ruhe. Nur diesen einen Morgen. Nur für eine Weile.« Er stand da und hielt die Tür offen, während er mir hinterhersah.
* **
Ich eilte in die Suite, schnappte mir eine von Charles’ Ledertaschen und leerte seine Unterlagen in die unterste Schreibtischschublade. Mit schnellen Schritten bewegte ich mich durch den Raum und zog einige Pullover und Socken aus der Kommode, wobei ich mich für die dicken, wollenen entschied, die er zu seinen Pantoffeln trug. Ich stopfte das Funkgerät in die Tasche und schob das Messer seitlich in meinen Gürtel, sodass ich es leichter würde erreichen können. Ich nahm das Bündel Briefe vom Nachttisch und durchwühlte ein letztes Mal hastig die Schubladen, auf der Suche nach dem Bild meiner Mutter. Es war einige Wochen nach meiner Ankunft im Palast verschwunden, aber ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass ich es eines Tages irgendwo in einem Papierstapel oder in dem Spalt hinter den Schubladen finden würde. Dafür war es jetzt zu spät. Ich eilte ins Badezimmer und kletterte auf den Rand der Wanne. Calebs T-Shirt war noch da, gleich hinter dem Gitter. Ich stopfte alles in die Tasche, zog den Reißverschluss zu und ging.
Auf meinem Weg nach draußen legte ich einen kurzen Zwischenstopp in der Palastküche ein. Der Raum war leer, die Bediensteten drängten sich immer noch vor den Fenstern im Salon. Die Schränke waren gerade mal halb voll, die Tage ohne Nachschub hatten die Vorräte erheblich zusammenschrumpfen lassen. Ich durchsuchte jeden Schrank und jede Schublade und steckte einige Beutel getrockneter Feigen und Äpfel ein sowie das dünn geschnittene, gesalzene Schweinefleisch, das in Papier eingeschlagen war. In den vergangenen Wochen hatte ich es nicht runterbekommen, aber ich packte es dennoch ein, denn ich wusste, dass es nicht schaden konnte, es dabeizuhaben. Ich füllte drei Flaschen mit Leitungswasser und verstaute sie in meiner Tasche. Als ich wieder auf den Flur hinaustrat, standen zwei Soldaten vor dem Aufzug. Ihr Blick wanderte von mir zu meiner Tasche.
Ich ging auf sie zu und sah ihnen in die Augen. »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich, während ich den Aufzugknopf drückte. »Ich habe Charles versprochen, ihm das hier ins Büro zu bringen. Er hatte mich um einige Unterlagen aus der Suite gebeten.« Ich deutete auf die Metalltüren und wartete darauf, dass sie zur Seite treten und mich durchlassen würden. Doch sie bewegten sich nicht vom Fleck. Stattdessen straffte der ältere der beiden, ein
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