Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
gegeben hat. Ist mir auch egal. Der schwere Eichentisch mit der beinahe zehn Zentimeter dicken Platte, die ohne einen einzigen Nagel auf dem Untergestell ruht, ist mein Lieblingsstück aus meiner Wohnung. Auf ihm kann man essen und arbeiten und auch dösen. Jetzt ist er zu einer Art Schreibtisch geworden, ich wollte endlich einen eigenen Schreibplatz in Oskars Wohnung. Meine eigene Ecke. Wer hat mich kürzlich eigenbrötlerisch genannt? Was soll’s. Vesna und ich sitzen eng beieinander, vor uns zwei Gläser mit Rotwein und der Laptop. Ich schiebe die erste Karte in das Lesegerät. Kein Problem. Vier Videos sind darauf gespeichert, alle vom Mai dieses Jahres.
„Wir sollten Aufzeichnungen der Zeit nach ansehen“, meint Vesna. „Früheste zuerst.“ Sie ist die Systematikerin von uns. Vielleicht hat Fran sein Talent für Computer und Mathematik von ihr. Er will seinen Master in „Computational Logic“ machen. Was immer das ist.
Wir schieben eine Karte nach der anderen ein und beschriften sie mit dem Permanentstift, den ich in Oskars Schublade gefunden habe. An sich wühle ich nicht in seinen Schubladen, jeder braucht seine Privatsphäre, finde ich. Die Videos beginnen im August vergangenen Jahres. Wir werden Céline fragen, wann ihre Mutter in Lissenberg eingezogen ist. Im Schnitt hat sie pro Monat eine Speicherkarte verbraucht. Wir starten das erste File.
Das Bild ruckt hin und her. Es führt uns durch die Küche. Der Sessel, der Tisch, sogar der Plastikbrotkorb waren damals schon da. Auf dem kleinen Fernseher steht eine Zimmerantenne. Mikrowelle gibt es noch keine. Zumindest nicht auf dem Tisch. „Liebling, es ist Zeit, zu essen“, hören wir undeutlich. Sie muss das Telefon einfach in ihrer Hand gehalten haben. Jetzt lehnt sie es an eine Tasse, wir hören, wie sie sich schwerfällig setzt, dann sehen wir ihr Gesicht. Verschwommen und von der Seite. Jetzt erst wird mir bewusst, dass wir bisher kein Bild von ihr gehabt haben. Die Frau kann unmöglich Anfang vierzig sein. Das Gesicht ist aufgedunsen, die halblangen hellen Haare – schwer zu sagen, ob sie blond oder grau sind – werden von einem Gummiring zusammengehalten. Am Hals Fettwülste, dennoch scheint mir, als wäre er ehemals schön gewesen, lang und biegsam. Wir sehen Teile ihres Oberkörpers, sie trägt ein blaues T-Shirt, ihr rechter Oberarm wirkt monströs, aber das macht vielleicht auch die Perspektive. Sie dreht sich um, ist nicht mehr zu sehen, nimmt wohl im Sitzen etwas von der Kredenz. Dreht sich ächzend wieder um und legt ein Schneidbrett auf den Tisch. Auf dem Brett ein großes Stück billig aussehende rosa gefärbte Wurst, ein weiches weißes Brot, ein Messer. „Extrawurst“, hören wir die Frau murmeln. „Die magst du doch so gern.“ Dann schneidet sie eine dicke Scheibe ab, schmatzendes Geräusch. Als sie durch das Stück Wurst durch und auf dem Brett ist, überlautes Kratzen. Der Sound erinnert mich an bestimmte Jaques-Tati-Filme, nur dass hier nicht die Moderne dokumentiert wird, sondern zeitlose Einsamkeit. Wir beobachten, wie sie sich ein Stück Brot abschneidet, die Wurst auf das Brot legt und zu kauen beginnt. Die nächsten Minuten über kaut sie und schneidet wieder Wurst ab und wieder Brot und legt wieder beides übereinander und kaut wieder und sagt nichts. Wahrscheinlich gibt es nichts zu sagen. Das Auge ihres Aufnahmegeräts leistet ihr Gesellschaft. Irgendwann einmal, ganz unvermittelt, kommt eine Hand auf das Mobiltelefon zu, groß, größer, rosa, ähnlich der Wurst, sie füllt alles aus, und damit ist der Film zu Ende.
„Gibt einen schnelleren Durchlauf“, meint Vesna.
„Okay.“
Wir sehen mit Evelyn Maier fern, verschwommene Bären toben über eine verschwommene Felslandschaft. Wir frisieren uns mit Evelyn Maier die Haare. Wir legen uns sogar mit Evelyn Maier schlafen. Sie steigt ins Bett, sie legt das Telefon neben sich, man sieht die Decke und den Teil einer Lampe, die aus mehreren Armen mit nackter Elektrokerze besteht. „Gute Nacht, Liebling“, sagt sie. Das Bild bleibt. Das Kameraauge starrt an die Decke, man hört Evelyn im Schlaf schnaufen und murmeln. Irgendwann reißt der Film ab. So als ob nun auch die Kamera eingeschlafen wäre. Kein Speicherplatz mehr.
Ich reibe mir die Augen. Ich kann nicht mehr. Céline hatte recht. Ihre Mutter hat das Mobiltelefon als Begleiter gebraucht. Da ging es nicht darum, etwas zu dokumentieren, sondern sie wollte, dass jemand die Dinge, die sie sah, auch sieht. Es
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