Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
ich inzwischen: Es ist die Postbotin, die Evelyn gefunden hat. Sie sitzt neben mir und stochert in einem Brathuhn, das aussieht wie exhumiert.
„Ganz traurige Sache, das mit Frau Maier“, sagt sie leise. „In den letzten Monaten war sie mehr und mehr verloren. Ich hab ihr angeboten, mit unserer Caritasstelle zu reden, damit die jemanden vorbeischicken und schauen, was man tun kann. Aber sie wollte nicht.“
„Wie war das, als Sie Frau Maier gefunden haben?“, flüstere ich. Zum Glück reden Céline und Roger gerade aufeinander ein, allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass es sie einander näherbringt.
„Fürchterlich. Für mich. Sie war ja nur drei Jahre älter als ich. Ich hab den alten Herrn Friedrich gefunden, der ist einfach auf der Bettbank eingeschlafen, er war über neunzig. Aber Frau Maier … Obwohl man schon sagen muss, dass es ihr gar nicht gut gegangen ist …“
„Was haben Sie gesehen?“ Ich weiß nicht, was ich mir von der Frage erwarte, und geniere mich ein wenig dafür.
„Sie ist mit dem Kopf auf dem Teppich gelegen. Der Teppich hat das Blut fast ganz aufgesogen. Ihre Hand war schon kühl, die Polizei meint, sie ist da schon zwei, drei Stunden tot gelegen. Am Ofen hat Blut geklebt. Und Haare. Aber sonst … nichts. Keine Anzeichen von einem Kampf, nichts war durchwühlt.“
„Ihre Hausschuhe … einer war unter dem Gartensessel und einer bei der Küchenkredenz“, erinnere ich mich.
„Sie ist lieber auf Socken durchs Haus gegangen. Die Hausschuhe hat sie nur angezogen, wenn sie ins Freie gegangen ist, das weiß ich.“
„Wohin ging sie einkaufen?“
„Sie ist ja einmal in der Woche nach Wien gefahren. Die Schnellbahnstation ist nur fünfzehn Minuten entfernt, für sie waren es in den letzten Monaten vielleicht dreißig Minuten, sie hatte große Probleme mit den Knien. Bevor sie in Wien die Schnellbahn zurück genommen hat, hat sie beim Diskonter alles gekauft, was sie für die Woche gebraucht hat. Sie hatte so eine Einkaufstasche auf Rollen.“
Wir bekommen unsere Würstel, der Gulaschsaft riecht eigentlich sehr gut. Ich tunke ein Stück Semmel ein und bin angenehm überrascht: sämig und etwas scharf, aber auch ein wenig süß. Genau so, wie ein Gulaschsaft sein soll.
„Haben Sie ihr Mobiltelefon gesehen?“
„Nein, aber ich hab auch gar nicht besonders darauf …“
„Hören Sie endlich auf!“, knurrt Roger zu mir herüber. Ich habe gar nicht wahrgenommen, dass er nicht mehr mit seiner Schwester diskutiert. „Wir wollen nicht, dass Sie da weiter herumschnüffeln.“
Céline sieht ihn wütend an. „Du willst das vielleicht nicht. Aber du hast dich auch nie um Mama gekümmert.“
Vesna kaut und sagt dann: „Hat eure Mutter irgendjemand mit Maybach gekannt?“
Roger starrt sie an, dann beginnt er zu lachen. „Das ist ein Witz. Das ist ein echt guter Witz von dieser Jugoslawin.“
Céline sieht irritiert von ihm zu Vesna. „Was ist das?“
„Das teuerste Auto der Welt“, keucht Roger. „Die glauben, unsere Mutter hätte einen gekannt, der das teuerste Auto der Welt fährt. Und ist trotzdem in diesem Loch geblieben.“
„Wie kommst du darauf?“, fragt Céline Vesna.
„Es ist zweimal vor ihrem Haus gestanden. Beim zweiten Mal hat sie geschrien: ‚Verschwinde‘, und es sieht so aus, als wäre dann einer in den Wagen gestiegen“, antworte ich.
Jetzt starrt mich Roger mit offenem Mund an. „Glauben Sie, dass wir da was erben?“
„Nicht er ist tot, sondern Mutter“, erinnert ihn Vesna.
„Was sollte sie mit so einem zu tun gehabt haben?“, fragt die Postbotin. – Genau das ist die Frage.
Ich muss eine Story über den boomenden Fahrradmarkt schreiben. Quasi als nächsten Teil der Reportage über die Gewinner der Wirtschaftskrise. Ich habe für unsere aktuelle Ausgabe verhindern können, dass die Secondhandladenstory als erste Folge einer Serie bezeichnet wird. Aber dem Chronikchef macht es einfach Freude, mich zu ärgern. Als interimistischer Redaktionsleiter hat er unsere Grafikabteilung inzwischen angewiesen, ein nettes Serienlogo zu basteln. Wo doch die erste Story so interessant geworden sei. Das hab ich jetzt von meinem Ehrgeiz. Es ist Samstag, es reicht vollkommen, wenn ich mit meiner Radgeschichte am Montag beginne. Ich sitze vor meinem Laptop und starre durch die Terrassentür auf die Dächer der Wiener Innenstadt. Oskar ist schon seit zwei Stunden in der Kanzlei. Ich bin froh, wenn diese Firmenfusion, an der er gemeinsam mit seiner
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