Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
Carmen? Ein paar christliche Tugenden können mir gar nicht schaden. Oskar ist aufgesprungen und holt den dritten Teller. Jetzt springt Carmen auf und eilt Richtung Vorzimmer. Was soll das? Ist zwar keine Pizza, aber der Risotto ist auch nicht übel. Oskar sieht ihr erstaunt hinterher.
„Telefon?“, flüstert er.
„Jetzt?“, fauche ich.
Da kommt Carmen zurück. Mit einem Fotoapparat in der Hand. „Das kann man nicht einfach essen. Das muss ich fotografieren und daheim herzeigen.“
Womit sie mich natürlich gewonnen hat. Und irgendwie bringe ich es auch nicht fertig, Nein zu sagen, als sie mich fragt, ob sie während des Studienlehrgangs eventuell in meiner Altbauwohnung wohnen dürfte. Eigentlich wäre es ohnehin das Beste. Die Wohnung steht leer und Oskars Tochter könnte sie brauchen. „Ich möchte von dir kochen lernen“, sagt sie.
Ich genieße die frühen Vormittagsstunden in Oskars Wohnung. Carmen hat auf dem Sofa übernachtet, sie ist schon fort Richtung Uni und hat zuvor, ganz brave Tochter, das Bett abgezogen und das Bettzeug in die Waschmaschine gesteckt. Manieren hat sie, muss man ihr lassen. Hat sie die von ihrer Mutter oder stammen sie doch vom Nobelinternat in St. Moritz? Oskar hat kurz nach seiner Tochter das Haus verlassen, er hat mich besonders lange umarmt und mir gesagt, wie froh er sei, dass ich mich mit Carmen verstehe. An sich mag ich sie ohnehin. Ich habe mir Zeit gelassen, nach dem Duschen einen zweiten Kaffee getrunken, Gismo gestreichelt und mein Gesicht in die Morgensonne gehalten. Jetzt werde ich mich langsam auf den Weg in die Redaktion machen. Mal sehen, ob die Praktikantin Rad fahrende Promis gefunden hat.
Mein Telefon läutet. Oskar hat mir gestern übrigens tatsächlich eine SMS geschickt. Ich war nur zu blöd, um das richtige Verzeichnis zu finden. Carmen hat mir gezeigt, wie es geht. Und sie hat dafür gesorgt, dass neue SMS ab jetzt auf dem Display aufscheinen. Wer weiß, was mit meinem alten Telefon ist. Ich werde heute jedenfalls nachfragen.
„Du hast zu tun oder du kannst in Stadtpark kommen?“, fragt Vesna.
Für einen Moment wird mir heiß. Ich denke an den Rosendiebstahl, und dass jemand dahintergekommen sein könnte. „Ich muss Klient bewachen und nachsehen, wer ihm Böses will, kann erst weg, wenn Jana mich ablösen kommt.“
Ich habe Zeit. Und es ist nicht eben häufig, dass mich Vesna um etwas bittet. Also frage ich erst gar nicht genauer nach, worum es geht. Ich werde durch die Wiener Innenstadt marschieren. Es ist September, wer weiß, wie oft die Sonne noch so wärmt.
„Wenn du beim Park bist, ruf an. Ich sage dann genau, wo ich bin.“
Eine halbe Stunde später erreiche ich den Stadtpark. Mein Spaziergang war schön, beinahe habe ich mich gefühlt, als wäre ich in Wien auf Urlaub. Ich habe die schicken Geschäfte bewundert und die alten Häuser, habe Fiaker vorbeifahren sehen und mir in einer kleinen Bäckerei eine Nussschnecke gegönnt. Ich sehe mich um. Beet mit Herbstblumen. Wie immer ist jemand vom Stadtgartenamt emsig unterwegs, um Unkraut zu zupfen, zu düngen, neu zu pflanzen: Ein junger Mann in grünem Overall hockt in einem Gesträuch mit bunten Astern. Ich sehe genauer hin. Das ist kein junger Mann, das ist Vesna. Ich gehe auf sie zu, bleibe ganz in ihrer Nähe stehen, sehe nicht in ihre Richtung und flüstere: „Was tust du da?“
Vesna gibt weiter vor, Unkraut zu zupfen, und deutet nur mit einer Hand zu einem hohen Baum, der ein Stück weiter steht. Auf dem Baum sitzt etwas. Für einen Vogel ist es deutlich zu groß, das sehe sogar ich, obwohl ich seit Jahren für das, was weiter weg ist, eine Brille haben müsste. Wenn ich wirklich immer alles gestochen scharf sehen wollte. Für mich wirkt das hoch oben am Baum wie ein bunter Bär.
„Ist Klient von gestern Nachmittag“, flüstert nun Vesna. „Ist bester Baumabschneider von Wien. Klettert einfach hinauf und schneidet, was weg soll.“
„Und was gibt es da für dich zu beobachten?“, will ich wissen.
„Irgendeiner mag ihn nicht. Bäume waren schon zweimal angesägt, ganz geschickt, sodass er nichts gemerkt hat. Ist er mit Baum umgefallen. Hat Glück gehabt, nur ein paar Stauchungen.“
Ich muss mir das aus der Nähe ansehen. Ich gehe auf den Baum mit dem bunten Bären zu und halte die Luft an. Rote Hose, blaues Hemd. Dieser Riese steigt den Baum hinauf, mehr oder weniger freihändig. Zehn, zwölf Meter ist er bereits vom Boden entfernt. Er hat einen dicken orangen Gurt um
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