Everlasting
Finn und Renko hatten da schon ihren Spaß mit Goethe 1786 auf seiner Italienreise und mit Mark Twain 1878 in Heidelberg. Doch gegenüber den meisten Neurosimulationsspielen hegte Finn eine herzliche Abneigung. Das lag an einem traumatischen Kindheitserlebnis mit dem Dark-Winter-Spiel «Death Triumphs», brutal und erst für Erwachsene ab 21 Jahren. Finn und sein Bruder waren erst sechs und acht, als sie ohne ihr Wissen in das Spiel hineinkatapultiert worden waren.
Sie hatten an einem Sommertag in der Nähe ihres Elternhauses am Strand herumgeplanscht, als sie ohne jede Vorwarnung in eine eiskalte und finstere Stadt geschleudert wurden, die anders als alles war, was sie je zuvor gesehen hatten. Leichen lagen am Kanalufer, Pestkranke taumelten halb tot durch enge Gassen, und Ratten nagten an ihren Zehen. Die Jungen hatten keine Ahnung, was passiert war, wo sie waren oder wie sie wieder nach Hause kommen konnten. Wie hätten sie auch wissen können, dass sie im Amsterdam des Jahres 2019 gelandet waren? Finn wurde hysterisch, als Mannu von plündernden Jugendlichen angegriffen wurde und schließlich im eigenen Blut lag.
Wie sich herausstellte, waren die Schuldigen eine Bandegelangweilter Teenager, deren Anführer ein Siebzehnjähriger mit Namen Maxim Capri war. Sie waren inselweit dafür bekannt, Jugendliche zu terrorisieren, die zum Baden an den Strand kamen. Ihre Spezialität war es, dass sie ihren Opfern nasse Handtücher auf den Körper schnappen ließen. Das tat weh.
Bei der nachfolgenden polizeilichen Ermittlung stellte sich heraus, dass Finns und Mannus gelegentliche Babysitterin Sabine Ironhard, ein albernes Mädchen mit einem von Akne geplagten Schlachtfeld von einem Gesicht, dummerweise Finns und Mannus Login-Codes leicht zugänglich in ihrem B B-Folder gelassen hatte, wo Maxim Capri, der mit ihrem Netzwerk verbunden war, sie fand und sich zunutze machte. Zum Glück reagierte Sabine, als sie Mannu leblos im Wasser treiben und Finn hysterisch neben ihm schreien sah, so geistesgegenwärtig, die halluzinierenden Jungen an Land zu ziehen, sonst wären sie mit Sicherheit ertrunken.
Es wurde viel Wind um den Vorfall gemacht. Die Jugendlichen wurden streng bestraft, und die uralte Debatte um Virtual-Reality-Spiele flammte wieder auf. Spiele, die die Möglichkeit boten, extreme Aggressionsgefühle zu erfahren, die man normalerweise nicht ausleben durfte, wurden normalerweise gebilligt, da Fachleute der Meinung waren, dass diese Gefühle nicht ins reale Leben übertragen wurden. Andere Experten wiederum vertraten die Ansicht, dass die Spiele bei manchen Menschen Aggressionen geradezu verstärkten.
«Keine Spiele, bitte», sagte Finn zu Renko. «Und lass uns auch nicht allzu sehr auf den Putz hauen. Wir haben keine Zeit, dir einen neuen Arm annähen zu lassen. Wir müssen arbeiten.» Er deutete auf seinen Arbeitsplatz.
Renkos neuer blauer Augapfel nahm die pinkfarbene Scheußlichkeit ins Visier, die auf Finns Schreibtisch lag. «Wie goldig! Pink!» Er nahm das Buch und öffnete es.
Finn spürte einen merkwürdigen Stich – als wäre sein Herz von einem dieser Defibrillatoren im Museum für Medizin geschockt worden. Er hätte Renko das Buch am liebsten aus der Hand gerissen. «Bitte. Lass das.»
Renko sah ihn verunsichert an. «Oh. Tschuldigung. Stufe Eins?»
«Nein. Es ist nicht top-secret. Davon hat Doc-Doc jedenfalls nichts gesagt, aber …» Er hätte nicht sagen können, warum, aber es störte ihn, dass Renko das Tagebuch aufgeschlagen hatte.
Renko klappte das Buch zu. «Scusi», sagte er und legte das Buch zurück auf den Schreibtisch. Er wartete einen Moment, dann sagte er: «Darfst du mir nichts erzählen?»
«Doch. Tja – schwer zu sagen. Die Verfasserin ist sehr jung. Höchstwahrscheinlich aus Norddeutschland. Gebildet. Sprachgewandt.»
«Und sie isst Hubba Bubba.»
Finn brachte ein leises Lächeln zustande. «Ja, das ist so ziemlich alles, was sich bisher sagen lässt. Und danke für das ‹supersaftigt›.»
«Klaro», erwiderte Renko. «Ach so, ja. Du hattest doch nach DSDS gefragt. Dieser Bibliothekar arbeitet noch dran. Deshalb ist das jetzt bloß eine Vermutung, aber da wir es hier mit Jugendkultur zu tun haben, neigt dieser Bibliothekar zu der Annahme, dass es sich dabei um eine von diesen bewusstseinserweiternden Drogen handeln könnte. Wie LSD. DMT. DOM. Klingt doch so ähnlich, nicht? DSDS.»
«Ein Halluzinogen?», fragte Finn ungläubig.
«Oh, du hältst das für
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