Everlasting
Arm.
«Aua!», schrie Finn in gespieltem Schmerz.
Er war sehr gern im Eisberg. Die meisten Historiker arbeiteten zu Hause oder wo immer sie sich gerade physisch aufhielten. Aber Finn ging zum Arbeiten am liebsten in die Bibliothek. Er fühlte sich wohl in seinem Büro, so klein es auch war, genoss es, durch die Katakomben zu schlendern und den verstaubten, modrigen Duft uralter Bücher einzuatmen. Aber vor allem gefiel ihm, dass Renko, der als Bibliothekar immer im Haus sein musste, gelegentlich vorbeischaute oder dass sie sich am Teedämpfer trafen und plauderten oder in der Katakombo-Kantine im siebten Stock gemeinsam zu Mittag aßen. Finn suchte seine Freundschaft. Warum eigentlich? Lag es daran, dass er auf Fire Island so abgeschieden aufgewachsen war? Oder an den innigen Beziehungen in seiner Familie? Die meistenKinder wuchsen in «Near ’n’ Dear»-Domänen auf, riesigen Gemeinschaftswohnanlagen für Familien und ganze Sippschaften, in denen es allerdings eher förmlich zuging. Renko zum Beispiel hatte kein besonders enges Verhältnis zu seinen Eltern. Finn hätte schon öfters gern mit ihm über ihre Kindheiten gesprochen, aber solche Themen kamen zwischen ihnen einfach nie auf. Sie unterhielten sich hauptsächlich über die Arbeit und Bücher und Geschichte und die besten Quellen für Informationen. Wäre Renko eine Frau, hätte er sich sicher gut als Gefährtin für Finn geeignet. Zum Glück hatten sie sich nie so zueinander hingezogen gefühlt. Gleichgeschlechtliche Beziehungen waren zwar keineswegs undenkbar, aber sie wurden auf dem europäischen Kontinent nicht gern gesehen, denn die Geburtenrate war auf der ganzen Welt, aber besonders in Europa, drastisch zurückgegangen. Dies hatte auch eine fieberhafte Forschung auf dem Gebiet der Fruchtbarkeitsmedizin ausgelöst. Gebärmuttertransplantationen und gleichgeschlechtliche Fortpflanzung waren bereits getestet worden, wenn auch bislang mit wenig Erfolg. Man munkelte, dass die Entwicklung in Richtung Selbstbefruchtung gehen würde. Menschen, die sich wie Bandwürmer von allein fortpflanzten? Was, wenn sie viel zu viele Menschen produzierten? Finns Generation hatte eine Lebenserwartung von mindestens 150 Jahren; ja, sie könnte, wie manche voraussagten, sogar im Jahr 2400, also in knapp 140 Jahren, noch am Leben sein. Finn hätte gern gewusst, ob das stimmte. Denn das würde alles ändern. Er könnte seine Doktorarbeit noch um zwanzig Jahre verschieben!
«Was ist denn so lustig?», riss Renko Finn aus seinen Gedanken.
«Ach. Nichts.»
«Und?»
Finn starrte ihn nur an.
«Und? Hast du Lust, morgen nach dem Slapbacktraining einen Happen essen zu gehen?»
«Klar», sagte Finn. «Wo denn?»
«In Leipzig hat ein neuer Laden aufgemacht. Die Beta Bar. Überirdisch. Wir müssten aber eine Einheit reservieren.»
Anders als viele Bibliothekare, die größtenteils scheue Eigenbrötler mit eingefahrenen Gewohnheiten waren, wusste Renko immer, was gerade angesagt war, ob es nun um Bars, Games oder Mode ging. Er war anders – nicht nur anders als die übrigen Bibliothekare, sondern auch als die meisten Menschen, die Finn kannte. Genauer gesagt, anders als
alle
, die er kannte. Renko war so offen und, ja, er schien an allem mehr Spaß zu haben. Besonders an neuen Trends. Renko war derjenige gewesen, durch den Finn zum Beispiel das neue kristalline Stimulans Zing kennenlernte, das in den Blüten eines mutierten Himalaja-Edelweiß entdeckt worden war.
Leider hatte Renko sich mit seinen BAD-PA D-Gelüs ten nach Bier, Action und Drogen schon öfters Riesenärger eingehandelt. Vor einem Jahr hatte er das linke Bein beim Wasserflitzen verloren, weil er unter Einfluss der Freizeitdroge U4ic gestanden hatte, einem Gasspray, das auch unter dem Namen JumbleJet bekannt war. Er konnte heilfroh sein, dass ihm nicht der Kopf abgetrennt worden war, denn den hätte der Bodyshop nicht so einfach ersetzen können wie das Bein. Leider war genau das, nämlich ein abgetrennter Kopf, das Schicksal von Gemma gewesen, seiner Ex, mit der er hatte Kinder haben wollen. Man hatte sie nicht retten können. Seitdemwar Renko unentwegt auf der Suche nach einer neuen Gefährtin.
«Leipzig hört sich gut an», sagte Finn.
«Die Bar hat auch ein tolles Spielcenter hinten. Echt brauchbar.»
«Renko!»
«Schon gut. Schon gut.»
Renko wusste, dass Finn sich nur an die zahmsten Spiele heranwagte, zum Beispiel die «Komm mit»-Serie, in dem man mit Größen der Literatur unterwegs war.
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