Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
ich mich vor den Spiegel und mache eine Bestandsaufnahme. Ich gehe meine mentale Checkliste durch und vergewissere mich, dass alles da ist. Dabei höre ich Damens Stimme in meinem Kopf, die exakten Worte, die er benutzt hat, als er es mir erklärte. Sie versichern mir, dass jedes Detail, angefangen bei meinem feuerroten Haar, bis hin zu meinem aufwändigen Kleid, meinem koketten Blick, meiner inneren Stärke und meiner Demut, seinen Ursprung in der Vergangenheit hat, während meine Augen selbst unverändert bleiben, ewig gleich, ganz egal, was für eine Verkleidung meine Seele sich auch ausgesucht hat. Ich bin dem Bild, das er gemalt hat, so nahe wie möglich gekommen – eingeschlossen ein paar neue Anspielungen auf Emala und Adelina, von denen ich damals nichts wusste –, bis mir noch ein letztes Detail einfällt. Ein letztes Detail, von dem ich nicht weiß, ob ich es hinkriege.
Die hauchdünnen Flügel.
Kaum habe ich sie mir auf den Rücken manifestiert, komme ich mir albern vor.
Es ist albern und peinlich – und na ja, ein bisschen schäme ich mich auch.
Auf keinen Fall kann ich meinen Gästen so unter die Augen treten. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden es falsch auffassen. Sie würden glauben, ich bilde mir ein, ich sei so etwas Besonderes, dass ich geradezu von den Engeln
herabgestiegen bin, um unter ihnen zu wandeln. Obwohl nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.
Ich presse die Lippen zusammen und will gerade die Augen schließen und die Flügel verschwinden lassen, als mir einfällt, dass ich es nicht für die anderen tue. Ich tue es für Damen. Oder vielmehr für Damen und mich.
An dem Abend, als er im Getty-Museum mein Porträt gemalt hat, hat er behauptet, sie seien da und nur er allein könne sie sehen. Er meinte allerdings, dass nur er sie sehen könne, hieße nicht, dass sie nicht real seien. Und obwohl ich mir sicher bin, dass kein Mensch meine Absichten verstehen wird, geht es doch einzig und allein darum, dass Damen es begreift. Dass der Anblick meines Kostüms ihn davon überzeugt, was wir tun müssen.
Ich hoffe nur, er sieht mich noch in dieser Weise.
Ich hoffe nur, ich versuche nicht, etwas wiederzuerlangen, was gar nicht mehr existiert.
Ich fummele an meiner Frisur herum, da ich es nicht gewohnt bin, mich mit roten Haaren zu sehen, außer wenn ich als Fleur im Pavillon bin, doch mir gefällt auch die Veränderung in diesem Leben. Dann streiche ich noch einmal mit den Händen über mein langes, dünnes Abendkleid, werfe einen letzten Blick in den Spiegel und gehe hinaus, ehe mir komplett die Nerven durchgehen.
Inzwischen ist das, was sich Sabine und Mr. Muñoz zusammen mit ihrem Team aus begabten Dekorateuren ausgemalt haben, in voller Pracht vollendet worden. Ich fühle mich, als schwebte ich durch eine mystische Zauberwelt, machte eine Zeitreise in die Vergangenheit, als ich die einzelnen Räume durchschreite, von denen jeder anders gestaltet ist, obwohl alles bis ins letzte Detail aufeinander abgestimmt ist.
Die Küche ist die griechische Antike, das große Fernsehzimmer die italienische Renaissance, das Badezimmer das Hochmittelalter – abgesehen davon, dass Waschbecken und Toilette funktionieren! –, das Esszimmer das Frühmittelalter, und das Wohnzimmer beschwört die viktorianische Epoche herauf, wohingegen der Garten ein Abbild der Sechzigerjahre bietet. Während sich das Haus allmählich mit mehr und mehr kostümierten Gästen füllt, stelle ich erstaunt fest, wie viel Spaß dieses Konzept macht.
Die Party hat gerade erst angefangen, trotzdem sind bereits sämtliche Lieblingsfiguren aus der Vergangenheit, also sozusagen die üblichen Verdächtigen, vertreten. Cleopatra begegnet nicht nur Mark Anton, sondern auch Marie-Antoinette und der Jungfrau von Orléans, Janis Joplin und Alexander dem Großen, Napoleon und Einstein sowie einem Typen mit langem Mantel und Zauselbart, der vermutlich Konfuzius darstellen soll. Ein anderer mit einem langen grauen Bart plärrt Prophezeiungen heraus und fühlt sich offenbar als Nostradamus. Unwillkürlich muss ich darüber schmunzeln, dass immer alle glauben, sie seien eine Berühmtheit gewesen. Niemand sieht sich selbst je als Dienstmagd oder Sklavin, wie ich eine war.
Miles findet mich als Erster und kommt Hand in Hand mit Holt auf mich zu. Noch ehe ich fragen kann, zeigt er auf sich selbst und sagt: »Leonardo da Vinci. Attraktiv, begabt und das ultimative Universalgenie – das passt doch, oder?«
Ich nicke
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