Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig

dank Romans Einmischung sowie der Tatsache, dass er an dem Abend dabei war, als ich Haven getötet habe, über die unappetitlicheren Details unserer Leben weitgehend auf dem Laufenden ist. Gefangen in ihrem Griff, wären ihm beinahe die Augen aus dem Kopf gesprungen, als sie versuchte, ihn zu erwürgen.
    Indem ich sie getötet habe, habe ich ihm das Leben gerettet – und mir damit jede Chance verbaut, jemals an das Gegengift zu gelangen.
    Trotzdem würde ich es gegebenenfalls wieder tun. Miles
ist einer meiner allerbesten Freunde und hat überhaupt nichts getan, um Havens Gewaltakt zu rechtfertigen.
    »Ich habe keine Ahnung, wer sie ist«, sage ich stirnrunzelnd. »Ich weiß nur, dass die alte Frau sich Lotos nennt und davon überzeugt ist, dass ich Adelina bin.« Dabei nuschele ich derart, dass meine Worte klingen, als führte ich Selbstgespräche.
    Ich werde erst aus meinem wirren Gedankennebel gerissen, als Romy und Rayne das Wort ergreifen und sagen: »Wir müssen am Anfang beginnen.«
    Ich sehe die beiden an und bin dermaßen perplex, dass ich nicht einmal weiß, wo der Anfang sein könnte. Doch ehe ich etwas erwidern kann, springen sie schon von ihren Stühlen auf, stürmen den Flur entlang und gehen in den Laden. Nur wenig später kehren sie zurück, nehmen ihre Plätze wieder ein und spähen in das Buch, das nun aufgeschlagen auf Romys Schoß liegt.
    Rayne lehnt sich über ihre Zwillingsschwester, und ihre runden braunen Augen unter dem messerscharf geschnittenen dunklen Pony werden groß, während zugleich ihre Stimme die Stille durchbohrt. »Okay, du hast gesagt, sie heißt Lotos, stimmt’s?«
    Ich nicke. »Hier steht, die Lotosblume wächst aus dem Lehm und kämpft sich durch den Matsch zum Licht empor. Wenn sie das Licht erreicht hat, blüht sie auf und wird zu etwas Außergewöhnlichem, etwas ganz, ganz Schönem.«
    Ich sauge den Atem ein und merke, dass wir endlich einen kleinen Fortschritt gemacht haben. Lehm, Matsch, die verrückte Alte namens Lotos – es passt alles zusammen, aber was bedeutet es?
    »Es ist ein Symbol fürs Erwachen«, sagt Ava und fällt
damit Rayne ins Wort, die soeben weitersprechen wollte. »Erwachen zur spirituellen Seite des Lebens.«
    »Aber es repräsentiert auch das Leben im Allgemeinen«, sagt Jude. Er rutscht mit seinem Stuhl vor, stützt die Ellbogen auf den Tisch und schiebt sich die Dreadlocks aus dem Gesicht. »Ihr wisst schon, die Mühen und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, überwinden, um zu seinem wahren Selbst aufzublühen – dem schönen Wesen, zu dem man bestimmt ist.«
    Dabei sieht er mich an, und ich kann nicht verhindern, dass mir das Blut in die Wangen steigt. Ich weiß nur allzu gut Bescheid über Judes Probleme und Kämpfe, nachdem ich sie an dem Tag, als ich vorgab, ihm aus der Hand zu lesen, um mein Können als Hellseherin zu demonstrieren und mir einen Job in seinem Laden zu sichern, aus eigener Anschauung gesehen habe. Ich sah alles so klar und deutlich vor mir ablaufen, als hätte ich die ganze Zeit neben ihm gestanden. Mit übersinnlichen Fähigkeiten begabt, die seine Eltern mit aller Kraft zu unterdrücken suchten, verlor er seine Mutter bereits in jungen Jahren, ehe sein vom Kummer gebeugter Vater sich eine Pistole in den Mund steckte und ihr nachfolgte. Damit überließ er Jude einer Reihe schrecklicher Pflegefamilien, bis der Kreislauf des Missbrauchs so unerträglich wurde, dass ihm ein Leben auf der Straße besser erschien. Sein Leben wurde an dem Tag gerettet, als Lina ihn entdeckte, die Verheißung in ihm erkannte und ihn davon überzeugen konnte, dass er kein Sonderling war, sondern eine ziemlich einzigartige und begabte Seele. Dass der begrenzte Horizont anderer keinen Einfluss auf den Jungen haben dürfe, der er bereits war, und auch nicht auf den Mann, der er werden sollte.
    Und jetzt ist Lina auch tot.

    Ich presse die Lippen zusammen, sehe ihn an und frage mich, wie er das verkraftet und ob das der Grund dafür ist, dass er so viel Zeit im Sommerland verbringt, oder ob das mehr an mir liegt – ob er so versucht, darüber wegzukommen, dass ich mich nicht für ihn entschieden habe.
    Sein Blick begegnet meinem und hält ihn nur für einen Moment fest, lange genug für mich, dass ich wünschte, ich könnte ihn lieben. Er verdient es, geliebt zu werden. Doch mein Herz gehört Damen. Trotz unseres momentanen Konflikts hege ich keinen Zweifel daran, dass er und ich füreinander bestimmt sind. Es ist nur eine kurze