Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
gegen die Tür und schiebt die Hände tief in die Taschen. An seinen gekräuselten Lippen und der Krümmung seiner gespaltenen Braue sehe ich, dass er das mitnichten tut, sondern sich vielmehr überlegt, was zwischen Damen und mir los sein könnte.
Doch deshalb bin ich nicht hier, also winke ich rasch ab und sehe ihn wieder an. »Hör mal, ich wollte einfach nur vorbeischauen und Danke sagen. Danke dafür, dass du mir
all diese … Leben hindurch ein so guter Freund gewesen bist.«
Stirnrunzelnd sieht er an mir vorbei und konzentriert sich auf die Straße dahinter, wobei er ein sarkastisches Schnauben ausstößt, eine Kreuzung zwischen Grunzen und Stöhnen, bevor er mir antwortet. »Ever, spar dir deine Dankbarkeit lieber für jemanden, der sie verdient hat. Keine meiner Handlungen hat sich auch nur im Geringsten als hilfreich erwiesen. Ja, sie waren sogar eher das Gegenteil
– ich hab alles nur noch schlimmer gemacht. Irgendwie hab ich wohl die schlechte Angewohnheit, immer alles komplett zu vermasseln.«
Da sich das nicht leugnen lässt, stimme ich ihm rasch zu, schicke aber gleich einen Trost hinterher. »Trotzdem bin ich nicht davon überzeugt, dass das deine Schuld ist. Wenn überhaupt, dann ist es eher deine Bestimmung.«
Er legt den Kopf schief und kratzt sich das stoppelige Kinn. »Meine Bestimmung ist es, dein Leben zu vermasseln? «, fragt er mit skeptischer Miene. »Ich weiß echt nicht, wie ich das finden soll.«
»Na ja, nicht nur das. Sicher sind auch noch viel bessere Aufgaben für dich vorgesehen – Dinge, die nichts mit mir zu tun haben. Was ich meine, ist, dass es vielleicht unsere gemeinsame Bestimmung ist, weißt du? Dass du und ich uns vielleicht aus einem Grund, auf den keiner von uns bisher gekommen ist, im Lauf der Jahrhunderte immer wieder treffen …« Ich äuge zu ihm hinüber und versuche zu ergründen, wie das bei ihm angekommen ist, doch er neigt den Kopf so, dass ihm ein Büschel Dreadlocks vors Gesicht fällt. »Also, jedenfalls …« Ich halte inne und komme mir langsam reichlich blöd vor, weil ich hier aufgekreuzt bin. »Ich hoffe, meine Reise wird das und noch mehr offenbaren.«
»Und das war’s dann also?« Er schiebt sich die Haare aus dem Gesicht und schenkt mir seinen tropengrünen Blick.
»Sieht so aus.« Ich versuche zu lächeln, doch es glückt nicht ganz.
Er nickt und zuckt dabei kaum merklich zusammen, als hielte er etwas zurück – als sei er von der Entscheidung gebeutelt, ob er sagen soll, was ihm auf der Seele brennt, oder nur das, was die Vernunft ihm erlaubt. Schließlich entscheidet er sich für Letzteres und sagt: »Dann wünsche ich dir eine glückliche Reise.«
Er löst sich von der Tür, als wollte er mich umarmen, aber im letzten Moment überlegt er es sich anders und lässt die Hände seitlich herabfallen.
Und ehe der Augenblick noch peinlicher werden kann, als er schon ist, trete ich rasch auf ihn zu und drücke ihn fest an mich. Einen Augenblick lang, der sich irgendwie losgelöst anfühlt, halte ich die Umarmung aufrecht, dann weiche ich wieder zurück. Dabei spüre ich den Fluss von Judes Energie, sein altbekanntes Markenzeichen aus kühler, ruhiger Gelassenheit, die nicht aufhört, mich zu durchströmen.
Sie bleibt beständig bei mir und lässt seltsamerweise auch dann kaum nach, als ich auf mein Auto zugehe und mich zum nächsten Abschied aufmache.
Nachdem ich bei Miles vorbeigefahren bin, nur um zu erfahren, dass er nicht zuhause ist, probiere ich es bei Ava und den Zwillingen, die indes auch ausgeflogen sind. Dann versuche ich es an Havens altem Haus, in dem sie einst mit ihrem kleinen Bruder Austin und ihren Eltern gewohnt hat. Als ich auf der Straße parke, sehe ich, dass ein ZU-VERKAUFEN-Schild im Vorgarten auf dem Rasen steht und eine offene Hausbesichtigung im Gange ist, bei der
eine ganze Reihe von Immobilien-Schnäppchenjägern ein und aus geht.
Ich frage mich, ob ihre Eltern überhaupt wissen, dass Haven tot ist und nie zurückkehren wird. Oder ob sie immer noch an ihr vorbei und um sie herum schauen, überallhin außer direkt auf sie, genau wie sie es getan haben, als sie noch da war. Und da ich ohnehin bereits ganz trübsinniger Stimmung bin, beschließe ich, noch bei Sabine vorbeizufahren, aber weiter nichts. Ich halte nicht an. Ich gehe nicht hinein. Ich habe bereits gestern stillschweigend Adieu gesagt.
Da ich keinen Grund für einen weiteren Aufschub habe, fahre ich die nächste Straße hinab, lasse mein Auto am
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