Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
Erscheinungsformen.
Ich rücke etwas von ihm ab, schließe die Augen und sende ein stilles Dankeschön an Roman, wo immer er sein mag, für sein wundervolles Geschenk.
Doch dann, gerade als ich Damen erneut küssen will, verfinstert sich seine Miene, und er entzieht sich mir. Meine unausgesprochene Frage beantwortet er mit einem kurzen Nicken zu Lotos hinüber, die ein Stück weit weg auf der Erde kniet.
Sie sitzt am Rand eines nur wenige Meter entfernt gelegenen Teichs. Ihr silbernes Haar umweht sie sanft, und sie murmelt leise etwas vor sich hin, während sie die Hände vor der Brust gefaltet hält. Sie blickt auf zahlreiche Lotosblüten, die durch das schlammige, dunkle Wasser wachsen und auf dessen Oberfläche Blüten treiben. Deren weiße und pinkfarbene Blütenblätter recken sich nach oben, umgeben von glänzend grünen, muschelförmigen Blättern. Eine nach der anderen taucht aus der Tiefe empor, bis man unter den vielen Blüten kaum noch Wasser sieht.
So verharrt sie eine ganze Weile und meditiert über die herrliche Aussicht vor ihr, bevor sie sich uns zuwendet. Ihre Miene ist nun zwar nicht unbedingt das, was ich als bekümmert bezeichnen würde, doch sie entspricht auch ganz und gar nicht dem triumphierenden Grinsen, das noch immer auf Damens und meinem Gesicht liegt.
Damen kneift die Augen zusammen und reckt das Kinn und macht sich auf die schlechten Neuigkeiten gefasst, die sie bestimmt überbringen wird.
Wir gehen vorsichtig auf sie zu und bleiben auf halbem Weg stehen.
Alle beide sind wir gleichermaßen verblüfft, als sie sich von dem matschigen Ufer erhebt, uns ansieht und sagt: »Herzlichen Glückwunsch.«
Wir warten.
Warten, dass noch etwas kommt. Doch zumindest fürs Erste ist das anscheinend alles.
»Ihr könnt auf die Erdebene zurückkehren, wenn ihr wollt.« Sie sieht zwischen uns hin und her.
Damen drückt meine Hand. Ihm braucht man das nicht zweimal zu sagen. Er möchte am liebsten sofort verschwinden, da er keinen Sinn darin sieht, noch länger hier herumzulungern.
Doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Bleibe wie angewurzelt stehen. Ich spüre, dass es noch nicht vorbei ist; Lotos will uns noch etwas mitteilen.
»Du hast es gut gemacht. Alles steht in Blüte.« Sie zeigt auf die Blumen, die nach wie vor aufblühen, und auf die Landschaft dahinter. »Ihr habt sogar die Verlorenen befreit. « Sie presst die Handflächen aneinander und drückt sich die Hände fest ans Herz, wobei ihr goldener Ring vor unseren Augen glitzert. »Und deshalb dürft ihr jetzt gehen. Dürft zu euren unsterblichen Leben zurückkehren. Allerdings frage ich mich …«
Wir sehen sie an – ich neugierig und Damen so argwöhnisch, dass er bereits ansatzweise die Fäuste ballt.
»Ich frage mich, ob ihr nach allem, was ihr gelernt hat, in eure Leben zurückkehren wollt. Ich frage mich, ob ihr euch für ein Leben als Unsterbliche entscheidet, nachdem ihr die Wahrheit der Seele erfahren habt.«
Damen verdreht schnaubend die Augen und versucht erneut, mich wegzuzerren. Aber ich rühre mich immer noch nicht vom Fleck, sondern sehe Lotos an. »Willst du damit sagen, dass wir allen Ernstes eine Wahl haben?«
Sie hebt eine knorrige Hand und streicht sich eine lose Haarsträhne aus dem Geicht. »O ja«, sagt sie, während ihr Blick über mich wandert. »Es gibt eine Wahl. Einen Ausweg.«
Ich presse mit finsterer Miene die Lippen zusammen und überlege, was das wohl heißen soll. Doch der Schluss, zu dem ich komme, behagt mir nicht, überhaupt nicht. »Wenn du den Tod als Ausweg siehst …« Ich schüttele den Kopf, blinzele ein paar Mal und kann kaum glauben, dass sie so etwas auch nur anzudeuten wagt. »Also, das kommt nicht infrage. Ausgeschlossen. Nur falls du es vergessen
hast, das entspricht für Leute wie uns ziemlich genau einer Reise ins Schattenland ohne Rückfahrkarte. Und da wir im Schattenland gerade eben erst aufgeräumt haben, wäre es uns ein Gräuel, es jetzt wieder in seinen alten Zustand zurückzuversetzen. Ganz zu schweigen davon, dass nicht garantiert ist, dass jemals jemand auftauchen und uns befreien würde, so wie wir gerade Roman, Drina, Haven und all die anderen erlöst haben.« Ich halte kurz inne, um mir die Haare aus den Augen zu pusten, aber nicht lange genug, um sie zu Wort kommen zu lassen. »Außerdem weißt du ja wahrscheinlich, dass wir jetzt das Gegengift haben – oder zumindest das Rezept dafür. Das heißt, wir haben soeben eine ganz neue Lebensgrundlage bekommen – einen
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