Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
einladenden Lächeln in Versuchung führt. Gebe mir alle Mühe, an seiner hypnotisierenden Schönheit, an seinem unbestreitbaren
Reiz vorbei zu der blutgetränkten Schnur vorzudringen, die eng um seinen Hals gebunden ist.
Eine Schnur, die mit meinem Blut vollgesogen ist.
Dieselbe Schnur, die ich letzten Donnerstag dort befestigt habe, als ich ein ähnliches Ritual durchgeführt habe. Diesmal jedoch ist alles anders. Meine Absicht ist eine andere. Ich will mein Blut wiederhaben. Ich habe vor, mich zu lösen.
Hastig sage ich den Sprechgesang auf, ehe er verblassen kann:
Mit diesem Knoten, den da löst meine Hand
Vor deinen Augen diese Magie sei gebannt
Wo einst diese Schnur war eng und fest
Mach ich rückgängig und gut es jetzt
Dein Griff nicht mehr machtvoll, fällt ab jetzt von mir
Ich löse die Schnur und gebe frei mich allhier
Lass es niemandem schaden, da ich fort es jage
Dieser Wandel gilt vom heutigen Tage
Dies ist mein Wille, mein Wort, mein Wunsch - so sei es!
Mit zusammengekniffenen Augen blinzele ich gegen den Sturmwind an, der durch meinen Kreis fegt, die Wände meines Lichtnetzes bis aufs Äußerste spannt, während ein Blitz einschlägt und Donner laut über mir dröhnt. Meine linke Handfläche ist erhoben, offen, bereit - mein Blick hält den seinen fest, als ich im Geiste den Knoten an seinem Hals lockere und das Blut zu mir zurückrufe.
Dorthin, woher es stammt.
Dorthin, wohin es gehört.
Meine Augen werden groß vor freudiger Erregung, als es im Bogen geradewegs auf die Mitte meiner verwundeten
Hand zustrebt; die Schnur um seinen Hals wird heller, weißer, bis sie schließlich so rein und unbefleckt ist wie an dem Tag, als es begann.
Doch gerade als ich mich anschicke, ihn endgültig zu verbannen, mich von dieser heillosen Fessel zu lösen, durchtost dieser seltsame, fremdartige Puls, dieser abscheuliche Eindringling mein Inneres mit solcher Gewalt, mit solcher Entschlossenheit, und überrennt mich so schnell, dass ich ihn nicht aufhalten kann.
Das Ungeheuer in meinem Innern ist jetzt vollständig erwacht, erhebt sich, reckt sich, und sein pochender Hunger besteht darauf, gestillt zu werden. Es lässt mein Herz wie wild hämmern, meinen Körper erbeben, und ganz gleich, wie heftig ich mich zur Wehr setze - es nützt nichts. Ich bin eine Geisel seines Strebens, eine Gefangene seines Begehrens. Ich habe keinerlei Bedeutung. Mein einziger Daseinszweck ist, all seine Bedürfnisse zu befriedigen, dafür zu sorgen, dass es geschieht.
Hilflos sehe ich zu, wie der Zyklus sich wiederholt. Mein Blut schießt hervor, durchtränkt die Schnur um Romans Hals, bis sie rot und schwer durchhängt und eine dicke Spur meines Seins auf seine Brust tropft. Und ganz gleich, was ich tue - ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe -, ich kann all dem nicht Einhalt gebieten.
Kann dem unbestreitbaren Locken seines Blickes nicht Einhalt gebieten.
Kann meinen Gliedern nicht Einhalt gebieten, die nachgeben, den seinen entgegen.
Kann dem Bann nicht Einhalt gebieten, der mich an ihn bindet.
Sein Körper ist wie ein Magnet, der nur mich sucht, er schließt den kleinen Abstand zwischen uns in weniger als
einer Sekunde. Und jetzt, da unsere Knie sich fest aneinanderpressen, unsere Stirnen dicht an dicht liegen, bin ich wehrlos, machtlos …, unfähig, diese unerträgliche Sehnsucht nach ihm im Zaum zu halten.
Er ist alles, was ich sehen kann.
Alles, was ich brauche.
Meine ganze Welt ist jetzt auf den Raum zwischen seinen Augen und meinen geschrumpft. Seine feuchten, einladenden Lippen sind nur die Breite eines Rasiermessers weit entfernt, während dieser dreiste, beharrliche Eindringling, dieser sonderbare, fremde Puls mich antreibt, will, dass wir verschmelzen, uns vereinigen, eins werden.
Meine Lippen drängen auf die seinen zu, kommen näher, immer näher, als von irgendwo tief in meinem Innern, irgendwo, wo ich nicht ganz hingelangen kann, die Erinnerung an Damen aufflackert, an seinen Geruch, sein Bild. Nicht mehr als ein kurzer Lichtblitz inmitten all dieser Finsternis - doch trotzdem genug, um mich daran zu erinnern, wer ich bin, was ich bin und an meinen wahren Grund, hier zu sein.
Gerade genug, dass ich aus diesem grauenvollen Traumszenario ausbrechen und aufschreien kann.
»Nein!«
Mit einem Satz springe ich zurück, weg von ihm - weg davon. So schnell und heftig, dass mein Lichtkokon um mich herum zusammenbricht, während die Kerzen verlöschen und Roman sich auflöst und verschwindet.
Die
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