Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
einzigen Spuren dessen, was gerade passiert ist, sind mein wie rasend pochendes Herz, der blutbefleckte Morgenrock und die Worte, die immer noch in meiner Kehle nachhallen.
»Nein, nein, nein, nein, nein, o Gott, bitte, nein!«
»Ever?«
Wild blicke ich mich in dem Schrank um, meine Finger umklammern verzweifelt den nunmehr irreparabel befleckten Morgenrock, und ich hoffe, dass sie einfach weggeht oder mir wenigstens genug Zeit bleibt um das hier zu begreifen …
»Ever, ist alles in Ordnung da drin? Das Essen ist fast fertig, vielleicht möchtest du langsam mal runterkommen!«
»Okay, ich …« Rasch schließe ich die Augen, lasse hastig meinen Morgenrock verschwinden und manifestiere an seiner Stelle ein schlichtes blaues Kleid. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Eins allerdings ist klar - Romy und Rayne kann ich es nicht erzählen. Die beiden waren bereits Zeuge meines letzten vermasselten Versuchs, und das hier werde ich bis in alle Ewigkeit zu hören bekommen. Außerdem stehen sie Damen zu nahe, und sie werden mir nie verzeihen.
»Ich komme gleich, wirklich!«, beteuere ich und spüre ihre Energie auf der anderen Seite der Tür, wie sie überlegt, ob sie einfach hereinkommen soll oder nicht.
»Fünf Minuten!«, warnt sie in resigniertem Tonfall. »Dann komme ich und hole dich!«
Ich schließe die Augen, schüttele den Kopf und ramme die Füße in ein Paar Sandalen, während ich mir mit den Fingern das Haar kämme. Und sehr darauf achte, dass äußerlich alles blitzsauber und makellos ist, denn innerlich besteht kein Zweifel, dass sich die Dinge gerade gewaltig zum Schlechteren gewandelt haben.
FÜNF
I ch schlüpfe zum Seitentor hinaus auf die Straße, die leisen Geräusche von Sabine und Mr. Muñoz, die lachend am Pool den letzten Rest Wein genießen, im Ohr, als ich loslaufe. Sorgsam darauf bedacht, ein gemäßigtes Tempo anzuschlagen, nicht zu schnell und nicht zu langsam; ich möchte keine Aufmerksamkeit erregen, falls mich jemand sieht.
Es war schon schlimm genug, es Sabine erklären zu müssen. Besonders nachdem ich gerade drei Viertel einer gegrillten Hühnerbrust, einen Klumpen Kartoffelsalat, einen ganzen Maiskolben und anderthalb Gläser Cola hinuntergewürgt habe - die mich alle nicht im Mindesten gereizt hatten und letzten Endes anscheinend nur einen ganz neuen Verdacht erregten.
Ihre Stimme war ganz hoch, im Alarmmodus, als sie fragte: » Jetzt? Aber bald wird es dunkel, und du hast doch gerade erst gegessen!« Ihr stets wachsamer Blick huschte über mich hinweg, als eine neue Möglichkeit in ihrem Gehirn Gestalt annahm - Anorexia athletica!
Nachdem sie normale Anorexie sowie Feld-, Wald- und Wiesenbulimie als Erklärung für mein merkwürdiges Verhalten und meine noch merkwürdigeren Essgewohnheiten ausgeschlossen hatte, hat sie jetzt etwas Neues aufgetan. Es besteht kein Zweifel, dass sie einen Ausflug in die Selbsthilfeabteilung der nächsten Buchhandlung in ihrem Wochenendzeitplan unterbringen wird.
Und ich wünschte, ich könnte es ihr erklären, mich einfach mit ihr hinsetzen und sagen: »Ganz ruhig. Es ist überhaupt nicht so, wie du denkst. Ich bin unsterblich. Der Saft ist alles, was ich brauche. Aber im Augenblick habe ich da ein kleines Problem mit einem Zauberspruch, das ich lösen muss - also warte nicht auf mich, es wird spät werden!«
Aber dazu wird es niemals kommen. Dazu kann es nicht kommen. Damen hat mir sehr klar zu verstehen gegeben, dass unsere Unsterblichkeit geheim bleiben muss. Und nachdem ich gesehen habe, was passiert, wenn sie in die falschen Hände gerät, muss ich sagen, ich bin hundertprozentig seiner Meinung.
Aber es geheim zu halten war für mich eine der größten Herausforderungen und deshalb das Joggen. Ich bin jetzt offiziell - oder zumindest was Sabine und Mr. Muñoz betrifft - jemand, der abends in T-Shirt, Shorts und Laufschuhe schlüpft und laufen geht.
Eine nette, gesunde Ausrede, um aus dem Haus zu kommen, weg von Mr. Muñoz, den ich als Mensch einfach mögen muss, obwohl ich ihn nie als Mensch kennen lernen wollte.
Eine nette, gesunde Ausrede, um von einer Tante wegzukommen, die mir gegenüber so lieb und rücksichtsvoll und hilfsbereit ist, dass ich gar nicht anders kann, als mir wegen des Ärgers, den ich verursacht habe, wie die mieseste Nichte der Welt vorzukommen.
Eine nette, gesunde Ausrede, um von zwei wunderbaren, freundlichen Menschen wegzukommen, damit ich mich einer sehr viel finstereren, ganz und gar nicht
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