Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
so greifbare Erinnerung herauf, dass sie einschlägt wie ein Hieb in die Magengrube. Mich auf die Knie zwingt, hinunter auf den Boden, ohne auf das raue Holz zu achten, das mir die Haut zerkratzt, ohne auf die Tränen zu achten, die mir über die Wangen strömen und auf das Glas tropfen. Sie machen das Bild undeutlich und verschwommen, doch ich schaue das Foto gar nicht mehr an, ich sehe das Ereignis in meinem Kopf. Lasse den Augenblick von Neuem ablaufen, als Riley und ich uns lächelnd übereinandergelehnt, gelacht und rumgealbert haben, während Buttercup aufgeregt gebellt hat und im Kreis um uns herumgerannt ist.
Und das alles nur Augenblicke vor dem Unfall.
Das allerletzte Foto von uns.
Ein Foto, das ich ganz vergessen hatte, weil Riley umgekommen ist, lange bevor sie es herunterladen konnte.
Ich schaue mich mit tränenblindem Blick im Zimmer um, und meine Stimme klingt schrill, als ich rufe: »Riley? Riley …, bist du …, siehst du mir zu?« Und ich frage mich, ob sie hier ist, ob sie all das so geplant hat, ob sie irgendwo in einer Ecke steht und mich beobachtet.
Mit dem Saum meiner Strickjacke wische ich erst mein Gesicht und dann das Glas ab, und ich weiß, auch wenn sie mir nicht antwortet, auch wenn ich keinen Zugang mehr zu ihr habe, das hier ist ihr Werk. Sie hat dieses Bild neu erschaffen. Wollte, dass ich eine weitere Erinnerung an das besitze, was wir einst miteinander geteilt haben und wer ich einst gewesen bin, noch vor einem Jahr.
Und obwohl ich versucht bin, das Foto mit nach Laguna Beach zu nehmen, lasse ich es stattdessen dort zurück, wo ich es gefunden habe. Es ist ein Ding des Sommerlandes; es wird die Rückreise nach Hause niemals überstehen. Außerdem finde ich es aus irgendeinem Grund schön zu wissen, dass es hier ist.
Ich klettere die Leiter hinunter, tappe durch das große Zimmer zurück und schicke mich an zu gehen, überzeugt, dass ich alles gesehen habe, was ich sehen sollte. Bin schon fast an der Haustür, als mir ein Bild auffällt, das ich beim Hereinkommen übersehen habe. Der Rahmen ist schlicht, grob aus ein paar schwarz bemalten Holzleisten gefertigt. Doch es ist das Bild selbst, das mein Interesse weckt, ein sehr gutes Porträt einer attraktiven, und doch irgendwie reizlosen Frau - jedenfalls nach heutigem Standard. Ihre Haut ist blass, die Lippen schmal und das dunkelbraune Haar ist streng nach hinten gekämmt und wahrscheinlich fest zu einem Knoten hochgesteckt. Doch ganz gleich, wie ernst ihre Pose wirkt, ganz gleich, wie streng ihre Miene ist, in ihren Augen leuchtet etwas sehr viel Leichteres, als spiele sie lediglich die Rolle einer sittsamen, unterwürfigen Frau ihrer Zeit, als posiere sie nur um der Schicklichkeit willen so, während in ihrem Innern ein Feuer lauert, das nur wenige Menschen vermutet hätten.
Und je länger ich in ihre Augen starre, desto sicherer bin ich mir. Obwohl ich versuche, es mir selbst auszureden, mich davon zu überzeugen, dass das nicht möglich ist, nicht im Entferntesten - diese unterschwellige Andeutung, die mich jetzt schon seit ein paar Wochen immer wieder mal beharrlich bedrängt, hat sich jetzt direkt vor mir manifestiert, so eindeutig, so erschreckend, dass sie sich nicht ignorieren lässt.
Mein gewispertes Aufkeuchen hallt durchs Zimmer, doch nur ich höre es, als ich zur Tür hinaus fliehe.
Bestrebt, dem Gesicht, das sich vor mir erhebt, zu entkommen - der Vergangenheit, deren Kreis sich gerade wieder auf bemerkenswerte Weise geschlossen hat.
NEUNZEHN
I ch denke gar nicht darüber nach. Denke überhaupt nicht. Ich beschwöre einfach das Portal zur Erdebene herauf und mache mich auf den Weg zu Damen.
Doch dann, gerade als ich vor dem Tor halte, überlege ich es mir noch einmal.
Die Zwillinge werden da sein.
Die Zwillinge sind immer da.
Und das hier ist definitiv etwas, das nicht in ihrem Beisein besprochen werden sollte.
Doch da das Tor bereits aufschwingt und Sheila mich fröhlich hereinwinkt, fahre ich hindurch und halte stattdessen auf den Park zu. Ich parke am Straßenrand und gehe zu den Schaukeln, wo ich mich auf dem kleinen Sitzbrett niederlasse und mich mit solcher Wucht abstoße, dass ich mich ernsthaft frage, ob ich drauf und dran bin, mich zu überschlagen, ehe ich wieder abwärtssause. Doch das passiert nicht, ich schwinge nur vor und zurück und genieße den Wind auf meinen Wangen, während ich immer höher fliege, und das leichte Absacken ganz tief im Bauch, wenn es wieder hinuntergeht. Ich
Weitere Kostenlose Bücher