Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
und ich ahnte, dass es ihm wehgetan haben musste, mich so festzuhalten. »Ich wette, du kannst morgen schwänzen«, sagte er. »Ein Angriff von einem Geist sollte Entschuldigung genug dafür sein.«
»Ich will aber zum Unterricht. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich muss nur erst mal ein bisschen schlafen.«
Endlich glaubten sie mir und ließen mich gehen.
Als ich die Tür zu unserem Schlafzimmer öffnete, lief Raquel schon auf und ab. Sie machte den Mund auf, um mir Fragen zu stellen, aber offensichtlich reichte mein Gesichtsausdruck aus, sie zum Schweigen zu bringen. Anstatt etwas zu sagen, ging sie zu meiner Kommode, zog meine Pullover hervor und warf sie aufs Bett.
Der Pullover und meine Judohose, die ich anzog, waren gemütlich, aber ich fror immer noch bis aufs Mark. Raquel kroch zu mir ins Bett und nahm mich von hinten in den Arm. »Schlaf«, sagte sie. »Schlaf einfach.«
Aber Raquel war diejenige, die von uns beiden zuerst einschlief. Ich lag noch bis spät in der Nacht wach und dachte über alles nach, was geschehen war, nicht nur heute, sondern dieses ganze Jahr und irgendwie auch in meinem ganzen Leben. Und ich sah alles in einem anderen Licht als vorher. Zum ersten Mal stellte ich mich der fürchterlichen Wahrheit.
Am nächsten Tag im Unterricht warfen mir alle merkwürdige Blicke zu und flüsterten, aber niemand traute sich, laut zu fragen, was denn los sei. Ich ignorierte die ganze Aufmerksamkeit. Niemals waren mir die kleinlichen Sorgen der Evernight-Akademie gleichgültiger gewesen. Bei den Fahrstunden zögerte Mr. Yee, ehe er mich hinters Steuer ließ, und zum ersten Mal parkte ich ohne die geringsten Mühen parallel ein.
»Gut gemacht«, sagte Balthazar, als wir nach dem Unterricht noch nebeneinander herschlenderten. Das waren die ersten Worte, die wir seit der Nacht zuvor miteinander wechselten.
»Danke.« Selbst eine Stille von nur einer Sekunde dehnte sich zwischen uns aus und wurde angespannt. Die Sache würde immer verfahrener werden, solange wir nicht darüber sprachen. »Ich denke, wir müssen uns unterhalten.«
»Ja, das sollten wir.«
Die Schüler bevölkerten bei diesem lauen Frühlingswetter praktisch jedes Fleckchen des Schulgeländes. Selbst die Vampire, die das Sonnenlicht mieden, streckten sich im Schatten unter den Bäumen aus, an denen jetzt neue, hellgrüne Blätter sprossen. Balthazar und ich wollten ein wenig für uns sein und zogen uns in die Bibliothek zurück, die beinahe ganz verwaist war. Dort ließen wir uns nebeneinander auf ein breites Holzsims vor einem der buntgetönten Fenster sinken.
Balthazar begann: »Du sagst mir jetzt bestimmt, dass das letzte Nacht nicht hätte geschehen dürfen.«
»Nein, ich bin froh, dass es passiert ist. Ich habe mir schon viel zu lange eingeredet, dass ich so viel Zeit mit dir verbringen und mit dir flirten darf, ohne dass es etwas zu bedeuten hätte. Aber es bedeutet sehr wohl etwas. Du bedeutest mir etwas. Aber ich liebe dich nicht.«
Ich hatte erwartet, dass meine Worte ihn verletzen würden. Aber stattdessen lächelte er mich nur traurig an. »Ich habe versucht, dafür zu sorgen, dass sich das ändert. Dich in jemanden zu verwandeln, der du nicht bist.«
Ich erinnerte mich an das flüchtige Bild des dunkelhaarigen Mädchens aus einem früheren Jahrhundert, das im Herbstwald lachte und Balthazar mit unendlicher Bewunderung anstrahlte. »Charity hat jemanden namens Jane erwähnt, und ich glaube, ich habe sie in deinen Gedanken …«
»Lass die Vergangenheit ruhen. Was anderes ist das nicht mehr. Es ist nichts als Vergangenheit.«
»Wenn wir … letzte Nacht … wenn wir … ich glaube nicht, dass ich es bereuen würde.« Das erregende Gefühl, ihm so nahe zu sein, war noch zu frisch in meiner Erinnerung, als dass ich es hätte verdrängen können. »Aber es kann trotzdem nicht noch einmal passieren.«
»Nein.« Balthazar seufzte. »Du würdest dich nie mit etwas zufriedengeben, das du nicht wirklich willst, Bianca. Du wirst nie mit jemandem zusammen sein, den du nicht aufrichtig liebst.«
Ich wünschte mir so, ich könnte ihn lieben. Alles in meinem Leben wäre so viel einfacher, wenn ich es täte. Er würde mich für alle Zeiten beschützen und behüten.
Aber ich begann zu begreifen, dass man einen Preis dafür zu zahlen hatte, wenn man behütet sein wollte.
Als ich an diesem Abend meine Schuluniform auszog, schlüpfte ich stattdessen in meine älteste Jeans und in mein Lieblings-T-Shirt. Sie waren so
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