Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Aber diese Trauer war umso schlimmer, als ich erkannte, dass alles hätte anders ausgehen können, wenn ich nur auf ihn gehört hätte. Besser. Glücklicher. Anders als so.
Der April war beinahe der schlimmste Monat in meinem ganzen Leben. Meine Eltern versuchten einige Male, mit mir zu sprechen, aber ich wollte nichts von ihnen hören, und nach ungefähr einer Woche gaben sie es auf. Wahrscheinlich dachten sie, ich würde schmollen, dann irgendwann »darüber hinwegkommen«, dass mein ganzes Leben eine Lüge war, und eines Tages wieder zum sonntäglichen Abendessen angekrochen kommen. Ich wusste, dass ich das nie wieder tun würde. Und sie würden das schon noch früh genug merken.
Als ich das zweite Sonntagsessen ausließ, fragte Raquel: »Gehst du gar nicht hoch?«
»Nö.«
»Letzte Woche dachte ich noch, ihr würdet vielleicht einfach eine Woche überspringen.«
»Ich gehe nicht mehr hoch.«
»Und ich dachte, deine Eltern wären besser als meine«, sagte sie leise.
Hatten meine Eltern mich nicht oft genug davon abzuhalten versucht, meine Zeit mit Raquel zu verbringen, nur weil sie ein Mensch war? Sie dagegen hatte eine höhere Meinung von ihnen als umgekehrt. Ich hätte sie umarmen können, aber sie hätte es gehasst. »Vielleicht hänge ich ja viel lieber mit dir rum.«
»Ich muss aber Hausaufgaben machen.«
»Dann machen wir eben Hausaufgaben.«
Für mich war das in Ordnung so. Selbst die Recherchen für eine langweile Arbeit in Psychologie waren mir lieber, als noch einmal meinen Eltern gegenüberzutreten.
Balthazar und ich hatten offiziell miteinander Schluss gemacht, jedenfalls war das die Version, die unsere Mitschüler kannten. Vic hatte einige halbherzige Versuche unternommen, zwischen uns zu vermitteln, damit wir wenigstens Freunde bleiben und wieder gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich brachte es nicht über mich, ihn zu entmutigen, aber nachdem er plötzlich einen Rückzieher machte, schloss ich daraus, dass solche Pläne bei Balthazar nicht auf Gegenliebe gestoßen waren. Zwar war Balthazar nicht wirklich böse auf mich, aber er schien irgendwie mit der Welt an sich zu hadern und wollte einige Zeit für sich sein.
Für uns beide war es vermutlich gut, eine Weile getrennt zu sein. Ich verstand das, aber ich hatte im letzten Jahr mehr Zeit mit ihm als mit irgendjemandem sonst verbracht, selbst mehr als mit Raquel. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte, dass er mich nach einem harten Tag aufmunterte oder mir auch nur ein Lächeln zuwarf, wenn wir aus der Klasse gingen, bis mir das alles nun fehlte.
Ich hatte immer noch Vic und Raquel, aber wenn es nach Mrs. Bethany gegangen wäre, dann würden selbst sie mir nicht mehr lange bleiben.
»Ihre bedauernswerte Weigerung, die Angelegenheiten mit Ihren Eltern zu besprechen, zwingt mich dazu, mich unmittelbar an Sie zu wenden«, sagte Mrs. Bethany und goss ihre Veilchen auf der Fensterbank. Ich saß auf einem der ungemütlichen Stühle mit den hohen Lehnen in ihrem Kutschhaus. »Sie haben inzwischen herausgefunden, dass Sie selbst das erklärte Ziel der Geister sind.«
»Ja.«
»Haben Sie eine Ahnung, was der Grund dafür ist?« Sie schien beinahe fröhlich bei der Vorstellung, dass meine Illusionen zerstört worden waren.
Ich knirschte mit den Zähnen und antwortete: »Ja.«
»Die Tatsache, dass Sie die Zielscheibe sind, bringt die anderen Schüler in Gefahr. Wir haben die Geister bislang durch die Steine, mit denen Evernight erbaut wurde, in Schach gehalten, aber es gibt Grenzen bei dem, was wir bewältigen können. Die Geister sind entschlossener, als wir es für möglich gehalten hätten.«
»Wie schmeichelhaft für mich.«
Sie stellte die Gießkanne ab. »Bitte sparen Sie sich Ihren Sarkasmus für Ihre Freunde auf, Miss Olivier. Sie sind heute hier, damit wir besprechen können, was in dieser Angelegenheit zu unternehmen ist. Ich bin nicht so herzlos, Sie gänzlich der Evernight-Akademie zu verweisen. Draußen in der Welt wären Sie ganz und gar ohne Schutz.«
»Ich habe dieses Jahr sehr häufig mit Balthazar gemeinsam den Campus verlassen, und die Geister sind mir niemals irgendwohin gefolgt.«
»Ich bin der Auffassung, sie wussten einfach nicht, wo Sie sich aufhielten. Wenn die Geister jedoch genug Zeit hätten, nach Ihnen zu suchen, dann … würden sie Sie am Ende an jedem Ort der Welt aufspüren.«
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. »Warum nur wollen sie ausgerechnet mich so sehr? Gibt
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