Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Unsicherheit. Jetzt werde ich nie aufs College gehen. Wie soll ich bloß den Kontakt zu Vic und Raquel aufrechterhalten? Werde ich je Balthazar wiedersehen? Wie soll ich mich bloß vor den Geistern schützen? Kann ich mein Teleskop mitnehmen? Aber nichts davon war so wichtig wie die Tatsache, Evernight und dem »Schicksal« zu entfliehen, das meine Eltern für mich vorgesehen hatten. Ich hatte nur eine Chance, frei und mit dem Jungen zusammen zu sein, den ich liebte. Und ich hatte vor, diese Chance zu ergreifen.
Ich begann sogar schon damit, die wenigen Kleidungsstücke, die ich mit in Mrs. Bethanys Kutschhaus genommen hatte, zusammenzupacken. Damit war ich eines Abends mitten im Mai beschäftigt, als mich ein Rütteln an der Tür aufschreckte.
Wer konnte das sein? Ich schob eilig meine halb gepackte Tasche unters Bett, hastete zurück in Mrs. Bethanys Wohnzimmer und rief: »Herein!«
Mrs. Bethany trat ein, gekleidet in einen langen, schwarzen Rock und eine graue Bluse mit Stehkragen. »Wie lästig«, sagte sie offenbar zu sich selbst. »An seine eigene Tür klopfen zu müssen.«
»Hallo, Mrs. Bethany. Brauchen Sie etwas?« Ich glaubte, je hilfsbereiter ich wäre, desto eher wäre ich sie auch wieder los.
Sie kümmerte sich gar nicht um mich, sondern rauschte an mir vorbei in ihr Schlafzimmer. »Ich brauche einige meiner Sachen, und ich wollte mich vergewissern, dass Sie nicht vergessen, die Veilchen zu gießen.«
»Eigentlich gedeihen sie ganz prächtig.«
»Das sehe ich.« Mrs. Bethany erstarrte und blickte ungläubig zur Wand. »Was um alles in der Welt ist das für eine Scheußlichkeit?«
»Oh, Sie meinen das Kunstprojekt? Das ist eine von Raquels Collagen. Sie nennt sie Diese Lippen werden dir Lügen erzählen .« Es war ein riesiges Wandbild mit allen möglichen Mündern mit Lippenstiften in Magenta, Pfirsich und Orange. Durchzogen wurde das Ganze von gezackten schwarzen Streifen und Blitzen. Es gab auch Messer und Pistolen, weil Raquel fand, dass kein Werk über die Täuschungen der Liebe ohne feindselige Phallussymbole auskommen konnte. »Gefällt es Ihnen?«
Mrs. Bethany fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Sie haben doch wohl vor, das wieder zu entfernen, wenn Sie hier ausziehen, nicht wahr?«
Ich hatte darüber noch gar nicht nachgedacht, aber plötzlich entschied ich mich, es Mrs. Bethany als Andenken zu hinterlassen. »Was glauben Sie, wann ich wieder in der Schule schlafen kann, Mrs. Bethany?«, fragte ich, als ob ich nicht in Wahrheit vorhätte davonzulaufen.
»Wir werden Sie informieren, wenn die Zeit dafür reif ist.«
Und dann rüttelte es noch einmal an der Tür. Plötzlich schien ich richtig beliebt geworden zu sein. Ich ging hin, öffnete und fragte: »Hallo?«
Schon als ich die Tür aufmachte, wurde ich mir der Gefahr dabei bewusst. Was, wenn es Lucas ist? Was, wenn er zurückgekommen ist und Mrs. Bethany ihn nun sieht?
Aber es war nicht Lucas.
Charity stand dort auf der Treppe, das Haar zu einem ordentlichen Knoten gebunden und mit einem dunkelroten Mantel bekleidet. Mit ihrem jungen Gesicht und den arglosen Augen sah sie beinahe wie Rotkäppchen aus, aber ich wusste, dass sie viel eher der böse Wolf war.
»Du bist nicht gerade die, die ich hier erwartet habe«, sagte sie mit einem Lächeln. Es war absurd, aber irgendetwas an ihr bewirkte noch immer, dass ich das Gefühl hatte, sie beschützen zu müssen. »Hat es hier eine Meuterei gegeben?«
»Wer ist da?«, fragte Mrs. Bethany, als sie zurück ins Zimmer kam. Dann baute sie sich zu voller Größe auf. »Ich traue meinen Augen nicht. Miss More.«
Ich konnte den gegenseitigen Hass in der Luft spüren. Aber Charity öffnete die Arme wie ein flehendes Kind und sagte: »Ich bitte um Zuflucht in Evernight.«
21
Innerhalb weniger Stunden teilte die gesamte Lehrerschaft meine Sorge …
»Haben Sie die Verhaltensregeln, die für diese Schule gelten, verstanden?«
Selbst von meinem Platz draußen vor dem Kutschhaus aus, wo ich in den Büschen hockte, um zu lauschen, war Mrs. Bethanys Stimme scharf und deutlich zu hören. »In der Vergangenheit hatten Sie sich dazu entschlossen, sie zu ignorieren.«
»Die wichtigste Regel in Evernight besagt, dass jeder Vampir, der um Zuflucht bittet, auch eingelassen werden muss.« Charity klang völlig ungerührt. »Ich werde mich an die Regeln halten, wenn Sie das ebenfalls tun.«
Die Lehrer, die sich nach und nach versammelt hatten, begannen zu murmeln. Ich traute mich nicht, über den
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