Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
töten!«
»Das ist keine Option für dich.«
»Ich denke aber schon.« Er konnte mir noch immer nicht die Wahrheit sagen. So viel dazu, dass ich das Recht hatte, aufgebracht zu sein, oder dazu, dass Dad zugab, einen Fehler gemacht zu haben. »Was, wenn ich mich dafür entscheide?«
»Bianca, das ist nichts, wobei du wählen kannst. Niemals. Lass nicht zu, dass deine Wut deine Vernunft beeinträchtigt.«
»Wir sind fertig«, sagte ich und ging davon. Ich fragte mich, ob er mir nachgehen würde, aber das tat er nicht.
In dieser Nacht lag ich in Mrs. Bethanys Bett. Meine Brosche hatte ich auf Mrs. Bethanys Nachttisch gelegt. Raquels Kunstwerk an der Wand war beinahe so leuchtend wie ein Nachtlicht, und ich versuchte, ebenso viel Freude an den Farben und an meinen Plänen zu haben wie vorher. Aber ich musste immerzu an meine Mutter denken. Das zerreißt sie innerlich.
Solange ich wütend auf Mom und Dad war - und ich war immer noch die meiste Zeit sauer -, schien mir die Trennung von ihnen nichts auszumachen. In anderen Augenblicken dachte ich daran, wie nahe wir uns immer gestanden hatten, und dann vermisste ich sie so sehr, dass es schmerzte.
Was ich verloren hatte, war für immer verloren. So war es doch? Ich wusste nicht, wie ich die Lügen, die sie mir erzählt hatten, aus einem anderen Blickwinkel sehen sollte.
Die Tür zum Kutschhaus wurde aufgestoßen, und ich sprang aus dem Bett. »Wer ist da?«, brüllte ich, ehe ich daran dachte, dass es für den Fall, es handelte sich um einen Eindringling, klüger gewesen wäre, leise zu sein.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Eindringling um Mrs. Bethany handelte, was nicht allzu tröstlich war. Obwohl es schon spät war, trug sie noch immer das gleiche Kleid, das sie auch schon im Unterricht angehabt hatte, als wäre sie noch sehr lange am Arbeiten gewesen. Ihre Augen funkelten. »Kommen Sie mit.«
»Wohin denn?«
»Sie sollen Ihrer Anklägerin gegenübertreten und sie hoffentlich als Lügnerin entlarven.«
Was hatte das zu bedeuten? Mein Magen zog sich furchtsam zusammen. »Ich … na ja, ich will mich nur noch anziehen.«
»Bademantel reicht. Wir müssen die Angelegenheit augenblicklich klären.«
Es war unverkennbar, dass ich keine weiteren Erläuterungen erwarten konnte. Mit zitternden Händen schlüpfte ich in meinen Bademantel und verknotete den Gürtel. Es gelang mir, die Brosche in die Tasche gleiten zu lassen, ohne dass Mrs. Bethany etwas auffiel; ich hatte das Gefühl, dass ich sie unbedingt bei mir haben sollte.
Nachdem ich mir den Obsidian-Anhänger um den Hals gehängt hatte, führte mich Mrs. Bethany über den Campus zur Schule. Hoch oben im Nordturm waren mehrere Fenster hell erleuchtet - unter anderem jenes, von dem ich glaubte, dass es zu Charitys Wohnung gehörte. »Sind meine Eltern ebenfalls dort?«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie sonderlich viel Wert darauf legen würden, sie bei sich zu haben«, antwortete Mrs. Bethany, und ihr langer Rock schleifte hinter ihr durchs Gras. Sie sah sich nicht um, sondern hielt es für selbstverständlich, dass ich ihr schon folgen würde, wohin auch immer sie mich brachte. »Ich bin mir sicher, Sie können die Angelegenheit auch selbst ins Reine bringen.«
Ich war nicht überzeugt davon, ob sie tatsächlich wollte, dass ich irgendetwas ins Reine bringen würde. Mrs. Bethany war offenbar fuchsteufelswild, aber ich hatte noch nicht herausfinden können, ob sich ihr Zorn auf mich oder auf irgendjemanden sonst richtete. In Anbetracht der Tatsache, dass wir auf dem Weg zu Charitys Räumen waren, nahm ich an, dass ihr Zorn mit ihr zu tun hatte.
Schweigend stiegen wir die steinerne Wendeltreppe empor, und ich spielte nervös mit dem Gürtel meines Bademantels. Ich wusste, dass es sich bei meiner »Anklägerin« um Charity handeln musste, aber wessen würde sie mich schon beschuldigen können?
Und dann wusste ich es. Angst griff nach mir wie mit einer eisernen Faust. Ich blieb vor der Tür stehen und wollte nicht eintreten. »Mrs. Bethany … wenn wir beide uns vielleicht kurz unterhalten könnten …«
Sie griff an mir vorbei, machte die Tür auf und schubste mich hinein.
Charity saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der mitten im Zimmer stand, und trug die Evernight-Uniform, die einzigen heilen Kleidungsstücke, die ich je an ihr gesehen hatte. Die Hände hatte sie brav und geziert im Schoß gefaltet. Sie sah so trügerisch normal aus. Entsetzt bemerkte ich, dass da noch jemand
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