Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
endlos kochend heiß halten. Auch egal. Jeder Mundvoll durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. Und doch reichte es mir nicht.
Ich wünschte mir, das Blut wäre heißer. Ich wünschte, es wäre lebendig.
Letztes Jahr war Patrice ständig aus dem Haus geschlichen, um Eichhörnchen auf dem Schulgelände zu fangen. Ob ich das auch tun könnte? Einfach so die Zähne in ein Eichhörnchen schlagen? Ich hatte immer gedacht, dass ich das nicht übers Herz bringen würde. Wann immer ich es mir ausmalte, sah ich, wie mir das Fell zwischen den Zähnen stecken blieb. Ekelhaft.
Aber wenn ich nun darüber nachdachte, fühlte sich die Vorstellung ganz anders an. Ich verschwendete keinen Gedanken an das Fell oder das Quieken oder sonst etwas in der Art. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das winzige Herz, welches so schnell schlug, dass ich beinahe das Tatam-Tatam-Tatam auf meiner Zungenspitze spüren konnte. Und es würde sich so gut anhören, wenn ich zubeißen würde und all diese kleinen Knochen zerspringen würden wie Popcorn in der Mikrowelle …
Waren das eben wirklich meine eigenen Gedanken gewesen? Das war ja abscheulich!
Genau das war es, dachte ich: abscheulich. Aber es fühlte sich überhaupt nicht abscheulich an. Es kam mir noch immer so vor, als ob ein lebendiges Eichhörnchen das köstlichste Mahl auf Erden wäre, abgesehen von menschlichem Blut.
Ich schloss die Augen und erinnerte mich daran, wie es gewesen war, Lucas’ Blut zu trinken, während er unter mir lag und mich fest in seinen Armen hielt. Nichts konnte damit mithalten. Unten im Treppenhaus knirschte etwas.
»Wer ist da?«, fragte ich erschrocken. Meine Worte hallten von den Wänden wider. Mit leiserer Stimme wiederholte ich: »Wer ist da? Ist da jemand?«
Noch einmal glaubte ich, es zu hören: einen seltsamen, knirschenden Laut wie brechendes Eis. Es kam näher, als ob es die Treppe heraufwanderte. Hastig schraubte ich wieder den Verschluss auf die Thermoskanne, damit mich kein menschlicher Schüler beim Bluttrinken ertappte. Ich schlüpfte in einen Flur und versuchte herauszufinden, was die Ursache für dieses Geräusch gewesen war.
Hatte sich ein Mädchen aus dem Schlaftrakt gestohlen, um sich wie ich einen kleinen Snack zu genehmigen? Der Laut, den ich gehört hatte, ähnelte ein bisschen dem Ploppen von Eiswürfeln, nachdem man sie ins Wasser geworfen hatte. Dann musste ich ein Kichern unterdrücken, als mir einfiel, dass ich einen Jungen gehört haben könnte, der heraufgeschlichen war, um sein Mädchen zu besuchen. Vielleicht war es auch gar keine Person. Es könnte ebenso gut das Gebäude gewesen sein, das auf die heraufziehende Herbstkälte reagierte.
Das knackende Geräusch kam immer näher. Die Luft um mich herum wurde mit einem Schlag kühler, als hätte ich soeben die Tür zum Gefrierschrank geöffnet. Meine Haare stellten sich auf, und ich bekam eine Gänsehaut auf meinen nackten Armen. Mein Atem stand mir als weißer Nebel vor meinem Mund, und ich hatte wieder einmal das Gefühl, dass jemand mich beobachtete.
Weiter unten im Treppenhaus sah ich ein tanzendes Licht. Es flackerte wie eine Kerze, aber der Schein war ein leuchtendes Grünblau. Lichtstreifen kräuselten sich auf dem Steinboden. Das alles war so gespenstisch, als ob ganz Evernight unter Wasser stünde.
Mittlerweile zitterte ich vor Kälte, und meine Finger lösten sich von der Thermosflasche. Scheppernd fiel sie zu Boden, und augenblicklich verschwand das Licht. Die Luft um mich herum erwärmte sich wieder.
Das war nicht nur ein Spiegelbild , dachte ich. Und das entsprang auch nicht nur meiner Fantasie.
Also was zur Hölle war das?
Die Tür, die dem Treppenhaus am nächsten lag, wurde aufgestoßen. Courtney stand dort in ihrem schreiend rosa Nachthemd, und ihr Haar hing ihr wirr ins Gesicht. »Was hast du denn für ein Problem?«
»Entschuldigung«, murmelte ich, während ich mich bückte, um die Kanne wieder aufzuheben. »Ich musste mich rausschleichen, um etwas zu trinken. Sie ist mir einfach … aus der Hand gerutscht.«
Irgendwann würde ich jemandem davon erzählen müssen, was ich gerade gesehen hatte, aber Courtney war die Letzte, die ich ins Vertrauen ziehen würde. Selbst das Eingeständnis, dass mir lediglich die Thermosflasche aus der Hand geglitten war, entlockte ihr ein Augenrollen.
»Gott, fang dir doch ein paar Mäuse wie jede normale Person, okay?« Doch anstatt die Tür wieder zuzuschlagen, trat sie von einem Fuß auf den anderen und sagte
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