Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Fensterglas schoben sich hierhin und dorthin, jedoch nicht zufällig, sondern einem Muster folgend, das einen Umriss bildete, bis ich etwas erkannte.
Es war ein Gesicht.
Der Mann aus Eis zeichnete sich deutlich auf dem Glas ab wie eine Illustration in einem Buch. Sein langes, dunkles Haar flatterte und umgab sein Gesicht wie eine Wolke. Er erinnerte mich an die alten Bilder von Seekapitänen im achtzehnten Jahrhundert, die ich mal gesehen hatte. Sein Gesicht, das ins Eis gegraben war, war so detailliert, dass es den Anschein hatte, als würde er meinen Blick erwidern. Es war das lebendigste Bild, das ich je gesehen hatte.
Und dann griff eine eisige Faust nach meinem Herzen, als mir klar wurde, dass er tatsächlich zurückschaute.
Seine Lippen bewegten sich, die Frostlinien veränderten seinen Mund ein ums andere Mal, als wollte er ein Wort hauchen, aber ich konnte es nicht verstehen, und es war kein Laut zu hören. Stumm vor Entsetzen schüttelte ich den Kopf.
Er schloss die Augen. Die Luft um mich herum wurde sofort noch kälter, so kalt, dass es schmerzte.
Das Eis auf dem Fenster barst, und die Splitter, die in meine Richtung flogen, nahmen die Gestalt eines nun dreidimensionalen Gesichtes an, das immer näher kam und mit einer Stimme schrie, die wie zerspringendes Glas klang: »Aufhören!«
Dann rieselten die Eisstückchen rings um mich herab wie Konfetti und fielen lautlos zu Boden. Die Kristalle waren so dünn, dass sie beinahe sofort schmolzen. Als auch die Reifspuren von den Wänden und den Fenstern verschwanden, erwärmte sich der Raum wieder auf seine normale Temperatur, und Wassertropfen prasselten auf meinen Kopf, als auch die Eiszapfen an der Decke tauten.
Ich saß in der Mitte des Raumes und war so verblüfft, dass ich mich nicht bewegen konnte. Sogar zum Schreien war ich zu verängstigt gewesen. Der einzige Gedanke, zu dem mein benebelter Geist fähig war, lautete: Was, bitte schön, war das eben gewesen?
Sobald ich mich wieder rühren konnte, stürmte ich aus dem Aktenraum, die Treppe hinunter, aus dem Nordturm heraus, und es war mir ziemlich egal, ob ich dabei erwischt werden würde. Ich hörte nicht auf zu rennen, bis ich wieder in meinem Zimmer war und in mein Bett schlüpfen konnte. Dort lag ich mit feuchten Haaren und pochendem Herzen, an Schlaf war nicht zu denken, und ich presste mein Deckbett gegen die Brust, während ich versuchte zu begreifen, was da gerade geschehen war.
Konnte ich mir das alles nur eingebildet haben? Ich hatte noch nie zuvor Halluzinationen gehabt, sodass ich mir nicht sicher war, wie sich das wohl anfühlte. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich weder Fieber hatte noch Drogen genommen hatte, bezweifelte ich, dass die Erklärung so einfach war.
War ich vielleicht irgendwie eingeschlafen und hatte das alles nur geträumt? Auf keinen Fall. Auch wenn meine Träume in letzter Zeit so intensiv geworden waren, hatte ich niemals irgendetwas in der Art geträumt wie das, was da oben gerade passiert war. Meine entsetzlich kalten Füße waren noch immer nass vom Eis, das überall um mich herum geschmolzen war. Eine andere Erklärung schoss mir durch den Kopf, aber ich wollte sie auf keinen Fall wahrhaben. Das kann nicht sein. Das sind nur die alten Geschichten, die mir meine Eltern erzählt haben. Und selbst damals, als ich noch ein kleines Kind war, habe ich nie daran geglaubt, dass diese Geschichten wahr sein könnten.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Vor dem Fenster unseres Zimmers ging die schwarze Nacht langsam in eine graue, verhangene Morgendämmerung über. Nicht lange nach Tagesanbruch regte sich Raquel, stöhnte und strampelte verschreckt gegen ihre Bettdecke.
»Raquel?«, flüsterte ich.
Sie blinzelte mich an. Ihr kurzes, schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, und ihr weißes T-Shirt in Übergröße war über die eine Schulter hinabgerutscht. »Du bist aber früh wach.«
»Ja, allerdings.« Und dann nahm ich all meinen Mut zusammen. »Hey, wenn ich dich etwas fragen würde, das ein wenig … na ja … irgendwie verrückt klingt, würdest du mir doch trotzdem zuhören, oder?«
»Natürlich.« Sie schwang ihre Beine aus dem Bett, als ob sie sich bereit machte, jederzeit aufspringen zu können. »Du hast mir letztes Jahr doch auch zugehört, als ich davon überzeugt war, dass irgendetwas draußen auf dem Dach herumschleichen würde, hast du das vergessen?«
Etwas war damals auf dem Dach herumgeschlichen - nämlich ein Vampir, der vorhatte,
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