Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
für meinen Teil tat so, als bemerkte ich weder Vic noch sonst irgendjemanden auf der Welt neben Balthazar.
Gemeinsam schlenderten wir bis zum Rand des Schulgeländes ganz in der Nähe des Waldes. Einige andere Pärchen saßen nicht weit von uns entfernt im Schatten. Balthazar ließ sich auf einen dichten Teppich aus herabgefallenen roten und orangefarbenen Blättern sinken, die noch immer ganz weich waren, und lehnte seinen breiten Rücken gegen den Stamm eines Ahornbaumes. Ich gesellte mich zu ihm und bettete vorsichtig meinen Kopf an seiner Schulter. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich das komisch anfühlen würde, aber das war nicht der Fall.
»Du solltest deinen Eltern möglichst schnell von uns erzählen.« Balthazar legte seinen Arm um meine Taille. »Je eher sie davon überzeugt sind, dass wir zusammen sind, desto eher kann ich sie um Erlaubnis bitten, mit dir das Schulgelände zu verlassen.«
»Kein Grund zur Eile. Ich sehe Lucas nächsten Monat in Riverton, bis dahin haben wir also noch Zeit. Aber ich werde Mom und Dad trotzdem bald einweihen.« Eine weitere Unwahrheit. Ich hatte das Lügen so satt, und die einzige Person, der ich die ganze Wahrheit würde anvertrauen können - Lucas -, schien viel zu weit weg zu sein.
»Du klingst erschöpft. Ist alles in Ordnung?«
»Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen. Ich habe etwas gesehen, das mir Angst gemacht hat, aber ich weiß nicht, ob ich meinen eigenen Augen trauen kann. Vielleicht kann ich dich ja etwas fragen.« Ich holte tief Luft. »Gibt es Gespenster?«
»Natürlich«, antwortete er leichthin, als ob ich ihn gefragt hätte, ob es am Himmel Sterne geben würde. »Haben dir deine Eltern denn nichts von Geistern erzählt?«
»Sie haben mir Gespenstergeschichten erzählt, als ich noch klein war, und mir gesagt, ich solle mich vor ihnen in Acht nehmen, aber ich dachte immer … du weißt schon … dass das eben einfach nur Geschichten seien.«
Balthazar hob eine Augenbraue. »Also wirklich, für eine Vampirin bist du ganz schön skeptisch, was das Übernatürliche angeht.«
»Wenn du das so sagst, fühle ich mich ganz schön dumm.«
»Hey, für dich ist das alles noch neu. Warte noch ein paar Jahrhunderte, und du bist so ein Profi wie ich.«
Meine Gedanken überschlugen sich plötzlich. »Was ist denn noch alles real? Werwölfe? Hexen? Mumien?«
»Keine Werwölfe. Keine Hexen. Mumien gibt es nur im Museum - jedenfalls, soweit ich weiß. Es gibt noch eine Reihe anderer Kräfte, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie Namen oder Gesichter haben. Vielleicht auch keine Körper. Sie sind jenseits davon und viel zu böse.« Balthazar hielt einen Moment inne und runzelte die Stirn. »Warte, du hast gesagt, du hättest letzte Nacht etwas gesehen, das dir Angst eingejagt hat.«
»Ein Gespenst. Einen Geist, schätze ich«, sagte ich und versuchte es mit dem Wort, das meine Eltern nur einige wenige Male benutzt hatten.
»Das ist nicht möglich. Hier in der Evernight-Akademie kann es keine Geister geben.«
»Warum denn nicht? Schließlich ist es hier doch unheimlich genug.«
»Die Schule ist so gebaut, dass sie nicht hineinkönnen. Hier gibt es Metalle und Mineralien, die Geister abhalten - die, die in menschlichem Blut vorkommen, also Eisen und Kupfer, wirken am besten. Und sie befinden sich in jedem einzelnen Stein der Grundmauern.« Er fuhr mit einer Fingerspitze an meinem Haaransatz entlang, und diese Geste war so liebevoll, dass meine Wangen erröteten. Balthazar konnte sich offenbar auf unser Gespräch konzentrieren und gleichzeitig romantische Gefühle vortäuschen. »Außerdem fürchten sich die Geister vor uns, und zwar mindestens so sehr, wie wir uns vor ihnen fürchten. Ich habe gehört, dass sie den Vampiren manchmal Schwierigkeiten machen, sie heimsuchen und dergleichen, aber das kommt selten vor. Gewöhnlich können sich Geister gar nicht schnell genug aus dem Staub machen, wenn sie einen Vampir sehen.«
»Warum fürchten sich die Geister denn vor uns? Ich kann verstehen, warum wir den Menschen Angst einjagen, aber Vampire können Geistern ja nicht das Blut aussaugen. Geister haben noch nicht einmal Blut, oder?«
»Haben sie schon, wenn sie eine körperliche Gestalt annehmen, aber meistens existieren sie als Nebel, Raureif oder einfach als kalter Ort, und manchmal als Bild oder Schatten, aber nicht mehr.«
Das Wort Raureif brachte die Erinnerung an die Erscheinung der letzten Nacht zurück, und zwar so übermächtig, dass ich
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